Landsberg - Ein eineinhalbstündiges Solotheaterstück; Tanz und Sprache; Thema: „sexualisierte Gewalt". Schwierig? Ja - und zugleich nein. Was Lucca Züchner mit „Kitzeleien -Tanz der Wut" im Stadttheater zeigt, ist großartig. Ergreifend. Und durchaus unterhaltsam. Standing Ovations für ein Theaterhighlight.
Mit 30 sitzt Odette in der Therapie. Die als Kind hochbegabte Tänzerin mit dem Namen der verzauberten Schwanenjungfrau aus „Schwanensee": „Ich bin nichts, mein Leben ist beschissen." Der Grund für Odettes Verzweiflung: fehlende Selbstliebe. Die Auslöser dafür: Ronald Huber. Der ‚nette Onkel', der Odette seit ihrer Kindheit sexuell missbraucht hat. Ein Vater, der praktisch nicht existiert. Und eine Mutter, die die Probleme ihrer Tochter verleugnet. Der Missbrauch, „das war ja nur ein- oder zweimal." Ihre Tochter macht eben aus jeder Mücke einen Elefanten.
Stückautorin Andréa Bescond erzählt in „Kitzeleien - Tanz der Wut" autobiografisch. Versatzstücke aus unterschiedlichen Lebensphasen stehen nebeneinander: die ersten Ballettstunden, für Odette ein sicherer Raum, in dem sie mit dem Tanz eine Möglichkeit findet, sich auszudrücken. Passagen, die in der Inszenierung voller Humor erzählt werden, in weiches Licht gesetzt, mit einer tütteligen Ballettlehrerin: die heile, bunte Welt - für Odette Zuflucht vor den „Kitzeleien", dem „Puppe spielen" mit Ronald. Ein Spiel, über das sie nicht reden darf. Einen Puppe-spielenden Onkel, den würde man ja auslachen! Und das will Odette doch nicht, oder? Denn er spielt ja nur mit ihr, „weil du so alleine bist."
Vom Ballettunterricht geht es in die Hochschule für Tanz, Internatsleben - Ronald bleibt. Odettes einziger Freund ist Rudolf Nurejew, der als Plakat über dem Bett hängt. Nach dem Internat bleibt Ronald fern - aber nicht aus Odettes Kopf. Von der aufstrebenden Tänzerin rutscht sie zur Musical-Nebendarstellerin, mit Drogen und Männern, wird zum tanzenden Werbehäschen mit „Titts and Ass", das zeitgleich vom schmutzigen Handtuch erzählt, mit dem sie sich das Sperma des Onkels abwischt..
Erst mit 30 versteht Odette, dass der Missbrauch und die fehlende Hilfe ihrer Mutter der Grund für ihren Selbsthass und die damit einhergehende Selbstzerstörung ist. Erst dann kann sie agieren und Ronald anzeigen. Der ist bei der Polizei bekannt - bisher aber nur für „unsittliche Berührungen". Odettes Anzeige ist für die Polizisten ein Fest: Endlich kriegen sie ihn! „Na dann Schampus!", sagt Odette zynisch.
Ihre Zeugenaussage ist eine der eindrücklichsten Szenen: Odette presst sich in den Stuhl, erzählt - pantomimisch. Nur Gestik und Blicke sprechen. Dazu läuft ein Lied über ein „petite fille", das „kleine Mädchen". Was Odette nicht in Worte fassen kann, wird zur Bewegung (Choreographie: Sophie Becker): zum Zittern, Schütteln; zum Tanz.
Ein Held im TraumNach der Anzeige ist vor der Therapie. Die macht Odette mit ihrer Mutter, um zu fragen, warum sie das Mädchen Odette im Stich gelassen hat. Aber ohne Erfolg. „Du hast ja nie etwas gesagt", sagt die Mutter. „Du hättest doch nur nein sagen können." Ein Monster, wenn auch ein hilfloses. Der Vater ist abwesend. Nur in Odettes Träumen mausert er sich zu ihrem Helden.
Lucca Züchner steht auf einer leeren Bühne - und füllt den Raum vom ersten Takt, von der ersten Bewegung an aus. Spricht sie für Ronald und für Odette, meint man, zwei Personen auf der Bühne zu sehen, so differenziert sind Gestik, Stimme und Mimik. Ronald ist dabei der ‚unverstellteste' Charakter. Während Zürcher für die Mutter den Ellbogen anwinkelt, mit der Hand das Kinn umfasst und die Stimme nasal wird, spricht sie Ronald mit normaler Stimme - und macht die Situation umso beklemmender.
Diese Einordnung des Missbrauchs in die Normalität ist der Grund, warum das Stück so eindrücklich ist. Das Nebeneinanderstellen von lebensrettendem Humor und verzweifelter Selbstzerstörung, die einfache, dennoch poetische Sprache, das poetische Bild zweier kleiner, tanzender Tutus neben kaltem Licht. Und die Hoffnung, wenn, im Spiegelbild zur Anfangsszene mit Ronald und der kleinen Odette, am Ende die große Odette das kleine Mädchen an der Hand nimmt. Und ihr sagt: „Das war nicht deine Schuld."
Dass Lucca Züchner die Idealbesetzung ist, weil ihr Schauspiel so direkt und einnehmend ist, macht den Abend (Regie Thorsten Krohn), sagen wir es mit einem großen Wort: ewig. Zu etwas, das im Kopf bleibt.
Das Publikum im Stadttheater gab lang anhaltend Standing Ovations.