Zielstrebig steuert ein kräftiger Mann mit tätowierten Oberarmen auf fünf ältere Damen zu. Die schwere Goldkette um seinen Hals blinkt im Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfällt. Der 18-Jährige bleibt neben den Damen stehen und zieht blitzschnell etwas aus seiner Tasche hervor: seinen Notizblock.
Früher griff Fredrick Sanders zur Waffe, wenn er auf potentielle Opfer traf. Heute ist der Stift sein Werkzeug. Mit ihm notiert der Kellner sich die Wünsche der Kundinnen, die sich im Homegirl Cafe zum Mittagessen treffen. Hier arbeiten ausschließlich ehemalige Gangmitglieder, drogengefährdete Jugendliche und solche, die ohne professionelle Hilfe während ihrer Bewährungszeit mit hoher Wahrscheinlichkeit rückfällig würden.
In Los Angeles ist ein solches Angebot bitter nötig. Die zweitgrößte Stadt der USA hat es schon vor Jahren zu einem unrühmlichen Spitznamen gebracht: "Gang Capital of the World", Hauptstadt der Bandenkriminalität. Wie viele Einwohner der Millionenmetropole einer Bande angehören, weiß niemand genau. Die Polizei schätzt, dass es fast 30.000 Menschen sind, organisiert in Hunderten von Gangs. Die meisten schaffen es nicht, den Teufelskreis aus Armut, schlechter Bildung und Arbeitslosigkeit zu durchbrechen. Die einzige Karriere ist oft eine kriminelle.
Jobs für Ex-Gangster
Nicht so bei Homeboy Industries. Der Jesuitenpriester Gregory Boyle gründete 1988 das Projekt, um ehemaligen Gang-Mitgliedern eine Perspektive zu bieten. Sein Motto: "Nichts stoppt eine Kugel so gut wie ein Job." Im Laufe der Jahre entwickelte sich aus dem Hinterhof-Projekt ein florierendes Gastronomie-Unternehmen mit Restaurant, Bäckerei, Catering-Service und einem Imbiss im Rathaus. Politiker, Polizisten und immer öfter auch Touristen schwärmen für den Betrieb, der mittlerweile fast 300 Ex-Knackies beschäftigt.
Sogar ein eigenes Modelabel gibt es, das inzwischen weltweit exportiert. Stolz tragen nicht nur die Angestellten den Namen ihres Arbeitgebers zur Schau, sondern auch immer mehr Kunden. So gewinnen die Homeboys und Homegirls an Bekanntheit. Im Souvenirshop, direkt neben dem Café, stapeln sich T-Shirts, Kapuzenpullis, Schirmmützen und Jogginghosen. Der neueste Clou: Kinderklamotten mit Gangster-Feeling, Aufschrift: "Baby Homegirl".
Die älteren Damen haben sich entschieden: Ein leichter Bio-Pfefferminz-Cocktail soll es als Aperitif sein. "Das sind alles so nette, zuvorkommende Jungs", sagt Ellen Tewell. Ihre Freundin Suzanne Flemming pflichtet ihr bei: "Ich hatte am Anfang meine Zweifel, was für Leute hier herumlaufen. Immerhin haben alle ein Verbrechen begangen." Umso mehr habe sie die Freundlichkeit überrascht. "Solche Angebote gibt es immer noch viel zu selten." Die amerikanische Justiz setzt traditionell eher auf Bestrafung als auf Wiedereingliederung.
Das Konzept der Homeboys ist das exakte Gegenteil - und für Tewell und Flemming einer der Gründe, in diesem Restaurant zu speisen. "Außerdem ist die Stimmung hier viel natürlicher als in anderen Läden, nicht so aufgesetzt", sagt Tewell. Auf der Lunchkarte stehen Gerichte wie Yambohnen- und Chayote-Salat, Tomaten- und Moosbeeren-Salat oder Hühnchen mit schwarzen Bohnen. Dass ihr das Essen schmeckt, wusste Tewell schon vorher, weil sie den Catering-Service bei einem Treffen ihrer Frauengruppe in Anspruch genommen hatte.
Mama-Tattoo auf dem Arm
So viel Lob macht den Kellner ein wenig verlegen. "Auf der Straße bist du nach dem Knast nichts, aber hier wirst du respektiert", sagt Fredrick Sanders. Seine goldenen Ringe spiegeln sich in den Cocktailgläsern. Weil er nie einer Gang angehörte, ist sein Gesicht nicht von gewaltverherrlichenden Tattoos gezeichnet. Auf dem Arm dagegen fällt eine rote Rose mit dem Schriftzug "Brenda" auf. "Meine Mutter", erklärt der Homeboy. "Und die ist jetzt mächtig stolz auf mich, weil ich mich mit diesem Job wieder aufrappele."
Sanders' Stimme ist ruhig und sanft, beinahe schüchtern. Seine Augen strahlen, während er freundlich die Kunden bedient. Anders als die meisten Angestellten saß er nur sechs Monate im Gefängnis. "Einen Tag vor Beginn meines Studiums kam ich auf eine saublöde Idee", sagt der 18-Jährige. "Zusammen mit ein paar Freunden habe ich einen wildfremden Typen auf offener Straße überfallen, ohne Grund, einfach so."
Im Gefängnis erfuhr Sanders von den Homeboys und schwor sich, die Chance zu nutzen. Für die Zukunft hat er noch ganz andere Pläne: "Ich möchte am liebsten Rapper werden."
Raub, Entführung, Körperverletzung
Gerade hält ein Touristenbus vor der Tür. Die Führung durch die Firma übernimmt "Homegirl" Elena Ramirez. Routiniert führt die 38-Jährige die Gruppe durch das Café, vorbei am Souvenirshop, hin zum Vorführraum, in dem ein Film läuft. Ramirez' Polizei-Akte ist so lang wie die Speisekarte des Restaurants: schwere Körperverletzung, Raub, Entführung, häusliche Gewalt.
Wenn die junge Frau ihre kriminelle Karriere schildert, wirkt sie, als rede sie über eine andere Person. Ohne das Gesicht zu verziehen, erzählt sie von ihrer trostlosen Jugend, den mehrfachen Vergewaltigungen, die sie ertragen musste, und den Freunden, die sie sich besser nicht ausgesucht hätte. "Gut, dass ich hier bin", sagt sie ohne jede Regung.
Dann huscht doch noch ein Lächeln über ihr Gesicht: "Seit ich hier arbeite, darf ich meine Kinder wieder sehen", sagt das ehemalige Bandenmitglied - das Jugendamt erlaubt es wieder. Leicht ist Ramirez die Wiedereingliederung jedoch nicht gefallen. "Einmal habe ich alles hingeschmissen und bin fast wieder auf die schiefe Bahn geraten. Aber dann habe ich eingesehen, dass mein Leben endgültig verpfuscht gewesen wäre."
Rückfallquote 30 Prozent
Dass es nicht alle schaffen, räumen auch die Verantwortlichen ein. Mona Hobson, Verwaltungsdirektorin des Unternehmens, spricht von einer Rückfallquote von 30 Prozent - im Gegensatz zu den 70 Prozent, die normalerweise nach einer Gefängnisstrafe erneut straffällig werden. "Natürlich haben auch die Touristen manchmal ihre Vorbehalte", sagt Hobson, "aber die meisten essen im Café, weil sie uns aktiv unterstützen wollen."
Auch bei Job-Anwärtern setzt die Firma voll und ganz auf Freiwilligkeit: "Wir zwingen niemanden, zu uns zu kommen", sagt Hobson. "Aber diejenigen, die es tun, meinen es ernst." Mit Lasertechnik entfernen Ärzte in ihrer Freizeit kostenlos die eintätowierten Gang-Insignien der Homeboys. Außerdem gibt es Anti-Aggressionstrainings, psychologische Beratung und Schulkurse für die Teilnehmer - hauptsächlich bezahlt durch Großspender und die High Society der Stadt, die sich gern ihrer gemeinnützigen Taten rühmt.
Unter den prominenten Fürsprechern sind auch Europäer wie der britische Fernsehkoch Jamie Oliver, der eine komplette Sendung in Los Angeles drehte. Auch in einem seiner Kochbücher berichtete er über die kochenden und kellnernden Homeboys - in Zukunft dürften deshalb noch mehr Touristen den Weg in das ungewöhnliche Restaurant finden.
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