Als Jesse Welter die ersten Patronenhülsen entdeckt, hören die Kameras kurz auf zu klicken. War vielleicht doch nicht die klügste Idee, in dieser Ruine herumzustöbern, noch dazu in einer der gefährlichsten Städte der USA.
Charlotta, 16, schaut wie gebannt auf die Munition. Fritz, 77, stützt sich verlegen auf sein Stativ. Eben noch war die Gruppe voller Elan durch die verlassene Schule gestapft, ausgestattet mit Digitalkameras, Wollmützen und Stirnlampen. Jede Glasscherbe eine Entdeckung, jeder Klassenraum ein Motiv. Und jetzt? Der totale Stimmungskiller. Doch Tourguide Welter versucht die Leute zu beruhigen: "Sind doch nur Gummigeschosse", erklärt er fröhlich. "Die feuert die Polizei auf Einbrecher. Seid froh, dass es nicht die Kugeln der Vorstadt-Kids sind - denn die sind echt."
Trotzdem ist das, was Jesse Welter in seinem Wohnort Detroit anbietet, tatsächlich nicht ganz ungefährlich. Bevor die Fotosafari im Betondschungel losgeht, müssen alle Teilnehmer einen Haftungsausschluss unterschreiben. Bei Festnahmen, Verletzungen oder Tod kann der Veranstalter nicht belangt werden. Wer weiß, was passiert, wenn man heimlich Gebäude betritt, die seit Jahren leer stehen. Zumal die Sache nicht ganz legal ist.
Doch genau dieser Kick beschert Welter immer neue Kunden. Der 44-jährige Fotograf hat sich auf "Urban Exploration" spezialisiert, die Erkundung von Ruinen im städtischen Raum. Davon gibt es in Detroit mehr als genug. Die Stadt, in der Henry Ford die industrielle Fließband-Produktion einführte, hat harte Zeiten hinter sich. Viele Betriebe sind nach Fernost abgewandert; 2013 meldete Detroit Insolvenz an, die größte kommunale Pleite in der US-Geschichte.
Verfallen lassen ist billiger als abreißen
Von einst fast zwei Millionen Einwohnern im Jahr 1950 sind laut der letzten Volkszählung von 2014 weniger als 700.000 übrig. Das Ausbluten der Stadt hat Folgen: Über 80.000 Wohnhäuser, Schulen, Fabriken, Kirchen, Kinos und Theater gammeln seit Jahren vor sich hin. Eine offizielle Liste der Stadtverwaltung zeigt, dass seit 2010 nur knapp über 7000 Abrissgenehmigungen erteilt wurden. Die Häuser einfach verfallen zu lassen, ist billiger.
Um möglichst viele dieser Orte zu präsentieren, kutschiert Welter seine Kunden im Minibus. Nächster Stopp: Fisher Body Plant 21. In der Fabrik wurden bis in die Neunzigerjahre Autoteile gefertigt. Heute thront der Klotz verlassen in der Landschaft. Wie ein Fremdkörper wirkt er nicht, denn kaputte Fensterscheiben, Graffiti und umgeworfene Straßenschilder sind in diesem Viertel allgegenwärtig. Zu sehen ist niemand, eine Stimmung wie bei "The Walking Dead", nur ohne Zombies.
Am Vorabend hat es geschneit - gut fürs Anschleichen, weil der Schnee die Schritte dämpft. "Falls die Polizei uns anhält, fliehen wir in verschiedene Richtungen", instruiert Welter seine Gruppe. Natürlich kennt er einen verborgenen Hintereingang, vorbei an Gestrüpp, Holzplanken, Bierdosen und benutzten Kondomen. "Passt auf, dass ihr nicht auf die Asbest-Fetzen tretet", mahnt er noch, doch da ist die Gruppe mit ihren Kameras schon hineingestürmt.
Johann Seila, 53, ist so entzückt, dass er anfängt zu philosophieren. "Die Architektur sagt so viel über diese Stadt - und die amerikanische Gesellschaft", findet der Finne, der wegen eines Konzerts nach Detroit gekommen ist. Zusammen mit seiner Tochter Charlotta legt er einen Zwischenstopp in den Ruinen ein. "Warum", fragt er, "sollte man sich für den Untergang längst vergangener Reiche interessieren? Hier kann man den Untergang live erleben."
Ein einmaliges Fotomotiv
Rosie Lemons, 61, kommt aus einem Vorort von Detroit. In der Volkshochschule hat sie ihre Liebe zur Fotografie entdeckt - und macht die Tour nun schon zum zweiten Mal mit. "Am Anfang war mir etwas mulmig zumute", sagt Lemons. "Dabei ist doch alles ganz entspannt." Was sie motiviert? "Schöne Bilder zu machen", sagt Lemons. "Diese Orte haben ihren ganz eigenen Charme."
Auch viele Profifotografen sind dieser Meinung. Bildbände wie "Detroit Disassembled" von Andrew Moore oder "Lost Detroit" von Dan Austin und Sean Doerr haben in den vergangenen Jahren viel Beachtung gefunden - und mit dazu beigetragen, dass die Stadt unter Ruinen-Fotografen heute so beliebt ist.
In der Fabrikhalle riecht es moderig, ein Mix aus Motorenöl, Lack und Schimmel. Trotz der Kälte herrscht reger Betrieb. Im Erdgeschoss knattert ein Generator, den eine Gruppe junger Hobbyfilmer aufgestellt hat. Weiter oben überlegen zwei Texaner, wie sie eine halb eingestürzte Wand, die Jugendlichen als Skaterbahn dient, am besten in Szene setzen. Man grüßt sich, man hilft sich - eine verschworene Gemeinschaft, diese Urban Explorers.
Eine Gemeinschaft jedoch, der nicht von jeder Seite Sympathien zufliegen. "Fuck you, Jesse Welter", ist gleich auf mehreren Graffiti in der Fabrikhalle zu lesen. Kritik kommt auch von denen, die sich gewählter ausdrücken. Der Detroiter Literaturdozent John Patrick Leary beklagt in einem Aufsatz, dass Ruinen-Fotografie "Armut ästhetisiert, ohne nach ihren Ursachen zu fragen, Orte dramatisiert und niemals die Menschen ausfindig macht, die diese Orte bewohnen."
"Jeder hat eigene Vorlieben"
Unter Einheimischen hat sich der wenig schmeichelhafte Begriff "Ruinen-Porno" eingebürgert. Den Urban Explorers gehe es nur um die Lust an der Sensation, lautet ein gängiger Vorwurf. Auch Jesse Welter kennt den Ausdruck. "Das klingt, als würden wir hier sonst was veranstalten", verteidigt sich der Guide. "Dabei machen wir nur Fotos von der Welt, wie sie ist - und dafür sind doch nicht wir verantwortlich."
Das Fremdenverkehrsamt bietet selbst keine Ruinen-Touren an. Verdammen will man die Urban Explorers aber nicht, immerhin geben auch sie ihr Geld in der Stadt aus. "Jeder hat eigene Vorlieben", sagt Renee Monforton, Sprecherin von "Visit Detroit". Wie viele der jährlich 1,6 Millionen Besucher wegen der verlassenen Häuser kommen, wisse sie nicht. "Wenn es ihnen aber nur um die Ruinen ginge, wäre das eine veraltete Sichtweise. Schließlich geht es in Detroit wieder aufwärts."
Nach fünf Stunden und vier Gebäuden ist die Fotosafari vorbei. Die Finger sind durchgefroren, die Speicherkarten prall gefüllt. Über ein Treppenhaus ohne Geländer tasten sich alle wieder ins Erdgeschoss vor. Nur Welter bleibt kurz am Aufzugsschacht stehen und schaut in die Tiefe. "Body Check", meint er nüchtern. "Kann sein, dass mal wieder jemand eine Leiche entsorgt hat."