Aguas Claras ist ein unscheinbarer Ort tief im kolumbianischen Amazonasbecken. Am 29. August 2019 starben hierbei der Bombardierung eines Lagers von Dissidenten der ehemaligen Guerilla Farc acht zwangsrekrutierte Jugendliche. Nach Recherchen von Lokaljournalisten ermordeten Soldaten später weitere Jugendliche. Der Tod der Jugendlichen ist nun auch in Italien ein Politikum. In Neapel trauert die Familie Paciolla um ihren Sohn Mario. Er wurde am 15. Juli rund 80 Kilometer von Aguas Claras entfernt in seiner Wohnung in San Vicente del Caguán in der Region Caquetá tot aufgefunden, an einem Bettlaken erhängt und mit Schnittwunden an den Armen. Seitdem ranken sich Gerüchte
um den Tod des 33jährigen Italieners, der Mitarbeiter der UN-Verifizierungsmission in Kolumbien (UNVMC) war.
Die UNVMC ist Teil des 2016 geschlossenen
Friedensvertrags zwischen
der kolumbianischen Regierung und
der Farc. Knapp 400 zivile und militärische
Mitarbeiter überprüfen die politische,
wirtschaftliche und soziale Wiedereingliederung
der über 13 000 ehemaligen
Guerilleros sowie die Einhaltung
der Sicherheitsgarantien für sie,
ihre Familien und Gemeinden. Paciolla
war seit August 2018 Mitarbeiter der
UNVMC. Zuvor hatte er bereits als Freiwilliger
für die NGO Peace Brigades
International (PBI) gearbeitet. Als er im
März 2016 bei PBI in Kolumbien anfing,
trafen er und der Autor dieses
Textes einige Male aufeinander. Mario
war der Neue und der Reporter ein
Ehemaliger, der manchmal zu Besuch
ins Teamhaus von PBI in Bogotá kam.
Paciolla war ein erfahrener Entwicklungshelfer
und kannte Kolumbien sehr
gut. Seine Mutter beschreibt ihn in der
italienischen Tageszeitung La Repubblica
als einen »brillanten Weltreisenden«,
seine Freunde bezeichneten ihn in einem
ähnlichen Bericht als Idealisten.
»Er hat nicht viel über seine Arbeit gesprochen
«, erinnerte sich seine Cousine
Emanuela in der italienischen Presse.
Paciollas Freunde berichten, er sei sehr
zurückhaltend gewesen. Er habe nie
über die Gefahren seiner Arbeit, »über
die tausend Probleme dieses Lebens
oder die Einsamkeit erzählt«.
Diese Einsamkeit beruhte vor allem
auf dem UN-Protokollregime. Der Lokaljournalist
und Direktor eines digitalen
Senders in San Vicente, William
González, meint: »Die Leute der UN hier
im Dorf sind sehr zurückhaltend und
der Kontakt mit ihnen ist minimal.«
Am Morgen des 15. Juli war González
live auf Sendung, als er erfuhr, ein
UN-Mitarbeiter habe sich nur drei Straßen
vom Studio entfernt erhängt. Er
nutzte die Werbepause, um seinen Assistenten
einige Außenaufnahmen
von Paciollas Haus machen zu lassen.
Auf den verwackelten Kamerabildern
sieht man eine Gruppe von etwa
zehn Männern vor dem Eingang eines
einfachen, zweigeschossigen Gebäudes
stehen. Die Veranda reicht bis zur
Straße, die Grundstücke zu beiden Seiten
sind unbebaut. Etwas abseits von
der Gruppe stehen im grauen Nieselregen
zwei junge Frauen und ein hochgewachsener
Mann unter Regenschirmen:
Paciollas Kolleginnen und Kollege.
Letzterer kehrt der Kamera demonstrativ
den Rücken zu. Obwohl er versucht,
seine Gruppe mit einem schwarzen
Regenschirm den Blicken der Kamera
zu entziehen, erkennt man die Bestürzung
in den Gesichtern.
Für die UN-Mission ist Paciollas Tod
eine Katastrophe. Denn dieser hat ein
diplomatisches Nachspiel, seit sich Journalisten
des Falls angenommen haben
und immer neue Unstimmigkeiten zutage
fördern. Die Polizei
ging anfangs von Selbstmord
aus. In San Vicente
zweifelte das niemand an,
bis zahlreiche Artikel in
Italien
und Kolumbien
Mord ins Spiel brachten.
Paciolla fühlte sich seit einiger
Zeit nicht mehr sicher
in Kolumbien. Er hatte Angst,
abgehört zu werden, und
vertraute seit kurzem auch einigen
seiner engsten Kollegen nicht mehr.
Kurz vor seinem Tod schrieb er einem
Vertrauten auf Italienisch: »Ich möchte
Kolumbien für immer vergessen. Vor
einiger
Zeit bereits habe ich die UN um
eine Versetzung gebeten und sie haben
sie mir nicht bewilligt. Ich möchte
ein neues Leben, weg von allem.«
Nach Aussagen seiner Mutter rief er
sie am 10. Juli an und sagte ihr wörtlich:
»Mama, ich muss zurück nach Neapel,
ich fühle mich schmutzig, ich muss unbedingt
zurück und im Wasser von
Neapel baden.« Anscheinend noch am
selben Tag erzählte er ihr, er habe eine
Auseinandersetzung mit seinen Vorgesetzten
gehabt und sich in »Probleme«
gebracht.
Paciolla zog seinen Rückflug nach
Italien, der für den 20. August geplant
war, einen Monat vor. Am 15. Juli wollten
zwei Kollegen ihn gegen acht Uhr
morgens zu Hause abholen, um ihn in
die 700 Kilometer entfernte Hauptstadt
Bogotá zu fahren. Nur wenige Stunden
zuvor starb er, seinem Totenschein
zufolge um zwei Uhr früh. Der Forensiker
im nahegelegenen Florencia, der
Regionalhauptstadt von Caquetá, stellte
als mögliche Todesursache »Gewalt«
fest. Dies umfasst in Kolumbien Selbstmord
und Mord. Doch für seine Mutter
ist klar: »Sie haben ihn umgebracht.«
Die UN verstanden es nicht, mit der
Situation umzugehen. Der Familie
seien sie von Anfang an abweisend und
distanziert begegnet, berichtet Paciollas
Mutter. Eine UN-Anwältin habe die
Familie
gegen elf Uhr vormittags kolumbianischer
Zeit angerufen. Die Anwältin
habe in zögerlichen Worten mitgeteilt,
Paciolla habe Selbstmord begangen,
und gefragt, ob die Familie die Rückführung
des Leichnams wünsche.
Während Paciollas Körper noch auf
dem Weg in die drei Stunden entfernte
Leichenhalle in Florencia war, veröffentlichte
die UNVMC in Bogotá eine kurze
Trauererklärung, mit der der Tod »eines
Freiwilligen« bekannt gemacht wurde.
Einen Tag später postete der offizielle
Twitter-Account der Mission eine Beleidsbekundung,
in der Paciollas Name
erwähnt wird. Der Account des UNVMCLeiters
Carlos Ruiz Massieu veröffentlichte
weiterhin nichts über den Fall,
wenige Tage später betrauerte er dagegen
den Tod einiger Soldaten bei einem
Unfall eines Militärhubschraubers.
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