Die Fassade der meisten Bauten im sächsischen Pulsnitz bröckelt, die Sonne hat die pastellfarbenen Wände gebleicht. Ganz anders das dreistöckige Haus, das nur wenige Hundert Meter vom Marktplatz entfernt gleich neben einem Park steht. In strahlendem Orange ist es gestrichen, das Gras im Vorgarten akkurat gestutzt.
In dieser Dorfidylle lebte die 16-jährige Schülerin Linda W. mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und dessen Tochter. Bis sie sich vor etwa einem Jahr aufmachte, um sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) in Syrien und dem Irak anzuschließen und offenbar einen tschetschenischen Kämpfer der IS-Armee zu heiraten.
Vor ein paar Tagen wurde das Mädchen aus Sachsen weltberühmt. Ein unscharfes Bild aus der befreiten irakischen Stadt Mossul, bis vor Kurzem eine der Hochburgen des IS, zeigt ein junges Mädchen, schüchtern lächelt sie in die Handykamera zwischen irakischen Soldaten, die sie festgenommen haben.
Mittlerweile wissen die deutschen Behörden, dass es sich tatsächlich um Linda W. handelt. Nach SPIEGEL-Informationen konnten deutsche Diplomaten sie sogar schon in einem Gefängnis der irakischen Spezialeinheiten direkt am Flughafen von Bagdad besuchen, dorthin war sie nach der Festnahme in Mossul gebracht worden.
Offiziell wollen die Behörden fast nichts über den Fall sagen. Das mag auch daran liegen, dass in dem Gefängnis in Bagdad nicht nur Linda W. sondern auch drei weitere deutsche Frauen sitzen, eine hat marokkanische Wurzeln, eine andere stammt offenbar aus Tschetschenien, hat aber einen deutschen Pass.
Behörden schätzen Zahl der Terror-Bräute auf 200
Die Gruppe steht vor einer ungewissen Zukunft. Alle vier reisten ins Krisengebiet und heirateten IS-Kämpfer. Allein dafür droht ihnen im Irak die Todesstrafe. Folglich wird sich Deutschland wohl bemühen, eine Auslieferung zu verhandeln, schließlich ist Linda ja noch nicht mal volljährig.
Kommt sie zurück nach Deutschland, würde ein Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung eröffnet. Es wäre eins von den dutzenden Verfahren gegen die sogenannten Rückkehrer. Die Behörden schätzen, dass rund 200 Frauen wie Linda als Terror-Braut ins Krisengebiet gereist sind.
In Pulsnitz im Landkreis Bautzen ist der Fall Linda allgegenwärtig. Nachdem das Foto aus dem Irak öffentlich wurde, fielen Fernsehteams und Reporter aus dem In- und Ausland in den 7500-Einwohner-Ort ein. Wie die Einwohner stellen sie sich die Frage, wie aus einer unscheinbaren Schülerin eine Dschihadisten-Braut wurde.
Der SPIEGEL konnte mit Menschen sprechen, die Linda aus ihrer Zeit in Pulsnitz gut kennen. Viele bestanden auf Anonymität. Aus den Gesprächen setzt sich das Bild eines aufgeweckten Teenagers zusammen, der sich ziemlich plötzlich veränderte, sich dem radikalen Islam zuwandte und dann verschwand.
Zunächst ist da die unauffällige Schülerin und Freundin: Linda ist gut in der Schule, schafft einen Notenschnitt von 2,1. Eifrig lernt sie Französisch, lässt sich konfirmieren. Besonders eigenständig wirkt Linda jahrelang nicht, nur ungern fährt sie alleine mit der Bahn.
Im Frühjahr 2016 kommt eine neue, veränderte Linda zum Vorschein. Die 15-Jährige interessiert sich plötzlich für den Islam, schaut Nachrichtensendungen und recherchiert über das Thema im Internet. Auf Facebook kommt sie mit Islamisten in Kontakt, schwer zu finden sind die nicht.
Was Linda W. passierte, nennen Terrorfahnder eine ferngesteuerte Radikalisierung. Zur Tarnung legt Linda W. irgendwann einen zweiten Facebook-Account mit arabischem Namen an, regelmäßig schreibt sie sich nun mit anderen Islamisten in Deutschland und im Krisengebiet.
Die strengen Vorgaben des Islam prägen nun Lindas Leben immer mehr. Im Juni, zu Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan, fastet plötzlich auch sie, peinlich genau achtet sie auf den Kalender, der festlegt, wann das Fasten gebrochen werden darf.
Die Eltern bekommen vom Abgleiten der Tochter wenig mit. Ihrer Mutter und ihrem Stiefvater sagt Linda, dass sie eine Diät mache. Nur einigen Vertrauten erzählt die Schülerin die Wahrheit, dass sie zum Islam konvertiert ist. Um sie nicht vor den Kopf zu stoßen, gibt sich ihr Umfeld offen für den neuen Weg.
Äußerlich ist die Verwandlung durchaus zu sehen. Auch an warmen Tagen trägt Linda nun lange Kleidung. Statt Songs von Bushido hört sie arabische Gebetsmusik. Ihre Freundinnen sind irritiert, kritisieren Lindas plötzliches Interesse am Islam und ihren neuen Lebenswandel.
Eltern entdecken Propaganda-Bilder auf ihrem Tablet
Zu Hause kommen Pakete für Linda an, darin unter anderem ein langes Gewand zur Verhüllung, islamistische Magazine und ein Gebetsteppich. Heimlich probiert die Schülerin das Gewand an, die Eltern sollen nichts merken. Später werden sie islamistische Propaganda-Bilder auf Lindas Tablet finden.
Auch in der Ernst-Rietschel-Oberschule bleibt Lindas sonderbares Verhalten nicht verborgen, ihre Mitschüler sprechen über sie. Den Schulleiter fragt Linda schließlich, ob sie auch mit Kopftuch zur Schule kommen könnte. Er wird misstrauisch, informiert Lindas Mutter und den Stiefvater, der als Hausmeister für die Schule arbeitet.
Ein Gespräch zwischen Schulleitung, Eltern und Linda endet zunächst versöhnlich. Dann sind Ferien.
Tatsächlich ist Lindas Flug ins Gebiet des IS zu diesem Zeitpunkt längst geplant. In einem Dresdner Reisebüro hat sie eine Reise nach Frankfurt am Main gebucht - mit anschließendem Flug nach Istanbul. Eine Einverständniserklärung der Mutter fälscht sie.
Lindas letzter Tag in Pulsnitz ist der 1. Juli 2016. Morgens eröffnet sie ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, das Wochenende bei Freunden verbringen zu wollen. Als die 15-Jährige am Sonntagabend nicht zurückkehrt, ruft ihre Mutter bei den Freunden an. Die haben Linda an diesem Wochenende nie gesehen.
Jetzt erfährt auch die Polizei von dem vermissten Mädchen, lässt nach ihr fahnden. Zu diesem Zeitpunkt ist Linda bereits außer Landes, erst nach dem Verschwinden findet sich die Flugbuchung unter der Matratze in ihrem Zimmer. Die Eltern begreifen langsam, dass sie ihre Tochter an den IS verloren haben.
Von Istanbul aus beginnt die Reise ins Reich des IS. Der "Bild"-Zeitung gelang es, mit Rebellen zu chatten, die Linda nach eigenen Aussagen zunächst am Grenzübergang Bab al-Hawa in Nord-Syrien aufgriffen und dann im August 2016 an Kämpfer der islamistischen Miliz Jund al-Aksa übergaben.
Stimmen die Aussagen der Kämpfer, die von Experten als Handlanger des IS klassifiziert werden, wurde Linda zu dem Zeitpunkt dringlich erwartet. Die Sicherheitsbehörden glauben, dass sie umgehend mit einem tschetschenischen Kommandeur verheiratet wurde. Spätestens jetzt ist sie eine Dschihad-Braut.
Daheim in Pulsnitz herrscht dieser Tage Ratlosigkeit. Hätte Lindas Radikalisierung verhindert werden können? Die Pulsnitzer Bürgermeisterin Barbara Lüke sagt, sie sei entsetzt über Lindas Schicksal, aber trotzdem froh, dass die Familie ihre Tochter nicht verloren habe.
Im Nachhinein fragt sich nicht nur die Bürgermeisterin, ob man mehr für Linda tun musste, als sie langsam abglitt. Seit Jahren schon gebe es in Pulsnitz keinen Sozialarbeiter mehr an der Schule, bemängelt Lüke. Der Fall von Linda zeige, dass die Stelle notwendig sei.
Lüke fragt sich wie viele Pulsnitzer, ob es eine Zukunft für Linda gibt. Vielleicht, so die vage Idee der Bürgermeisterin, könnte Linda ja eines Tages selbst dabei helfen, Jugendliche vom falschen Weg abzubringen. Bei den Behörden indes fürchtet mancher, die IS-Braut könnte zur Galionsfigur für die Rekrutierung werden.
Und nicht alle Pulsnitzer sind optimistisch. "Der Ort ist gespalten", sagt Kerstin Ratsch, die ein Kleidungsgeschäft im Zentrum der Stadt führt. "Die meisten freuen sich für Linda und ihre Familie." Allerdings gebe es auch viele Menschen, denen die Ereignisse Angst eingejagt hätten.
Eine von ihnen ist Nicolle Kriegel. Die 37-Jährige arbeitet in einer Großküche nur wenige Meter vom ehemaligen Wohnort Lindas entfernt. "Willkommen ist Linda hier nicht", sagt Kriegel. "Die Eltern tun mir leid, aber ich habe Bedenken, dass sie jetzt zurückkehren darf und sich nicht von der Ideologie des IS lossagt."
Auch Lindas ehemaliger Nachbar ist beunruhigt. Er hat die Schülerin auf einer Familienfeier kennengelernt. "Wir brauchen sie hier nicht", sagt er, "nachher kommt sie noch mit einem Sprengstoffgürtel."