An ihrem 17. Geburtstag aß Miriam* nachmittags Kuchen, feierte am Abend mit ihren Freundinnen und wurde in der Nacht von ihrem Freund missbraucht. Trotzdem blieb sie mit ihm zusammen. Christian* war Miriams erster Freund. Lange dachte sie, dass der Druck und die Gewalt, die sie erlebte, eben zu einer Beziehung dazugehören. Erst zwei Jahre nach der Tat, nachdem sie Schluss gemacht hatten, realisierte Miriam, was er ihr angetan hatte. Hier erzählt sie ihre Version der Geschichte.
Kennengelernt hat Miriam Christian beim Feiern in der Dorfdisco. Der Ort soll hier, genau wie Miriams echter Name, nicht genannt werden. Weil es nur einen Nachtclub auf dem Land gab, trafen sich dort am Wochenende die Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der ganzen Umgebung. Es war Dezember und der Boden mit einer klebrigen Mischung aus geschmolzenem Schneematsch und verschüttetem Wodka Energy bedeckt, so erinnert sich Miriam. Aus den Boxen wummerten die Chartshits, die Oldies und die Feierklassiker. Robin Schulz, Britney Spears und Fettes Brot. Auf der Tanzfläche war es laut und hektisch. Ihre Freundinnen und sie waren damals oft dort. Zum Tanzen, zum Trinken, zum Knutschen. Es gab selten eine Party, auf der Miriam nicht einem Typen näherkam. An diesem Abend, im Winter 2015, war das Christian.
Miriam war 16, Christian 18. Eine Freundin kannte ihn vom Tanzkurs und stellte sie einander vor. Sie redeten nicht viel, sondern küssten mehr. Am Ende der Nacht tauschten sie Nummern aus. Verliebt war Miriam nicht, aber geschmeichelt, weil Christian sie umwarb. "Er war der erste Mann, der mehr von mir wollte, als nur einen Abend rumzumachen", sagt Miriam. Bei ihrem zweiten Treffen auf der Tanzfläche knutschten sie wieder. "Es ging alles ganz schnell." Drei Wochen später waren sie ein Paar, vier Jahre lang.
Je mehr er drängte, desto weniger wollte sieMiriam und Christian führen von Beginn an eine Fernbeziehung. Miriam wohnte in ihrem Dorf, Christian in seinem. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gut 90 Minuten voneinander entfernt. Unter der Woche gingen beide in die Schule und am Wochenende zusammen auf den Weihnachtsmarkt, ins Kino und ins Bett. Sie erlebten die Zeit der ersten Male gemeinsam: die erste Beziehung, der erste Sex, das erste geflüsterte "Ich liebe dich". Bei ihrem ersten Mal sei Christian sehr liebevoll gewesen, vorsichtig, habe nette Dinge gesagt, erinnert sich Miriam. Sie war glücklich. Die beiden probierten viel aus, hatten Spaß sich gemeinsam zu entdecken, Lust sich zu spüren.
Zu Beginn schrieben sie sich kitschige Nachrichten. Christian sagte, dass er in seinem Leben noch nie so glücklich gewesen sei wie mit Miriam an seiner Seite. Sie feierten zusammen Silvester, gaben sich um Mitternacht einen Kuss, der noch nach den Erdbeeren aus dem Schokobrunnen schmeckte. War Christian nicht bei ihr, vermisste sie ihn. Gerade am Anfang ihrer Beziehung war es Miriam, die nicht ohne Christian sein wollte. Sie mochte an Christian seine weiche Seite, die nur sie kannte - und dass er sie zurückliebte.
Sex war ein wichtiger Bestandteil ihrer Beziehung, ein fixer Termin, wenn sie sich sahen, erinnert sich Miriam. Doch als allmählich die erste Euphorie abnahm, habe sie weniger Interesse gehabt mit Christian zu schlafen. Sie wollte mehr unternehmen, Christian wollte Sex. Je mehr er drängte, desto weniger wollte Miriam. Wenn sie zusammen im Bett lagen, kuschelten und Miriam keinen Bock hatte, habe Christian begonnen, sie zu bedrängen. So erinnert sie sich. Er habe ihre Brüste angefasst, zwischen ihre Beine gegriffen. Sie habe ihm klar zu verstehen gegeben, dass sie das nicht wollte, "Jetzt lass das mal" und "Ich habe gerade keine Lust" gesagt. Mehrmals hätte sie seine Hände von ihrem Körper geschoben. Doch Christian habe sie weiter angefasst. "Ich war davon extrem angepisst, aber hilflos, schließlich wollte ich keinen Streit", sagt Miriam heute. Sie habe nachgegeben, hätte mit Christian geschlafen aus Angst, dass es sonst Krach gebe.
Ich erkläre, dass das nichts mit Liebe zu tun hat - und dass es sich hier um Formen der Gewalt handelt. Sabine BöhmFür eine Studie der Hochschule Fulda aus dem Jahr 2015 wurden 462 Schüler*innen zu Gewalterfahrungen in Paarbeziehungen befragt. Drei von vier Mädchen gaben an, sich in ihrer Beziehung durch emotionale Gewalt beeinträchtigt zu fühlen, beispielsweise von kontrollierendem Verhalten. Jedes vierte Mädchen gab an, sexualisierte Gewalt oder Grenzüberschreitungen erlebt zu haben. Andere Studien ergeben ähnliche Zahlen.
Sabine Böhm arbeitet mit betroffenen jungen Frauen, sie ist Leiterin der Frauenberatungsstelle in . Sexualisierte Gewalt beginne nicht mit dem Start der Beziehung beginnen, sagt sie, sondern sich erst im Laufe der Beziehung entwickeln: auf verbaler, psychischer als auch physischer Ebene. Viele hätten keine Vergleichswerte, an denen sie das Verhalten ihrer Partner messen könnten. "Sie erzählen mir von der Eifersucht von ihrem Freund oder von einer Ohrfeige. Davon, dass er ihr Handy und die Handtasche kontrolliert. Von Wut, wenn sie keinen Sex wollen - vom Anfassen auch ohne Zustimmung. Ich erkläre dann, dass das nichts mit Liebe zu tun hat - und dass es sich hier um Formen der Gewalt handelt", sagt Böhm.