Winnetou sieht rot. Klekih-petra, sein geliebter Lehrmeister: hinterrücks gemeuchelt von einem Bleichgesicht. Jetzt liegen Vater und Schwester im eigenen Blute, niedergestreckt von einem Pistolero.
Umwallt von düsteren Orchesterklängen, die schwarze Mähne im Wind, tritt der Apachen-Häuptling vor sein Volk, stößt mit der Rechten seine Silberbüchse in den tintenblauen Himmel und verkündet die blutige Agenda: "Wenn am Morgen die Sonne auf die Erde trifft, werden unsere Feinde in die ewigen Jagdgründe eingehen." Eine Rachebotschaft, die mit gellendem Kriegsgeheul aus Apachen-Kehlen, Gewehrschüssen und kräftigem Szenenapplaus von der Zuschauertribüne herab gewürdigt wird.
Auch ein Winnetou darf einmal aus der bronzierten Haut fahren. Schließlich wissen die meisten der knapp tausend Zuschauer, die sich an diesem Sommerabend in der Arena Wagram eingefunden haben: Bald schon wird der niedere Affekt Güte und Weisheit weichen, wird der Prärie-Rowdy zum weltläufigen Stammesfürsten, zum tapferen Vorzeige-Indianer reifen.
So hat es Karl May für seinen Titelhelden in Winnetou I vorgesehen, einem Genreklassiker, der hier nahe Krems, auf einer Freiluftbühne von der Größe eines halben Fußballfelds, in Szene gesetzt wird. Jeden Sommer, diesmal bis zum 25. August, verwandelt sich jeden Samstag und Sonntag für 26 Euro Eintritt ein kleines Stück Weinviertel in den großen Wilden Westen, vibriert der Boden unter den Hufen feuriger Rösser, verhelfen Winnetou und sein Blutsbruder Old Shatterhand der Gerechtigkeit zum Sieg.
Es ist gewiss keine heile Welt, die deren Schöpfer vor bald 130 Jahren entworfen hat, sondern eine, in der die Helden aufgerufen sind, mit Weitsicht und verzeihender Nächstenliebe das Böse einzudämmen. Gewalt ist für sie nur Ultima Ratio. Gewiss ist aber auch: Bis am Ende die Kräfte des Guten obwalten, wird ausgiebig geschossen, gemartert, aufgelauert, überfallen und in den Sonnenuntergang geritten.
Nichts als Klischees und Stereotype seien das, die da über die indigenen Völker Nordamerikas verbreitet würden, so lautet der Vorwurf von Kritikern. Zudem werde der Genozid an den Ureinwohnern nicht thematisiert. "Toxisch" sei zudem der Begriff Indianer: Der sei falsch und würde die kulturelle Vielfalt der Native Americans beleidigen. Schwer wiegt zudem der Vorwurf der "kulturellen Aneignung", eine Art Identitäts-Diebstahl, den weiße Europäer begingen, wenn sie sich als Indianer kostümierten. Kurzum: Die Debatte ist da, in den sozialen Medien fliegen die Tomahawks tief - und Winnetou steht in roten Slim-Fit-Shorts, Sneakern und in die Stirn geschobener Sonnenbrille im Bühnensand der Arena Wagram und versteht die Welt nicht mehr.
Genau genommen steht da Marco Valenta, der in ein paar Stunden in die Rolle des Häuptlings schlüpfen wird. "Die Diskussion ist einfach völlig übertrieben", sagt der 37-Jährige und schüttelt den Kopf.
Ende der Leseprobe.