Seit Dienstagabend heulen in Israel in regelmäßigen Abständen die Sirenen. Erstmals seit dem Gaza-Krieg Ende 2012 haben militante Palästinenser wieder Jerusalem und Tel Aviv mit Raketen angegriffen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Toten im Gazastreifen kontinuierlich nach massiven israelischen Luftschlägen. Die Eskalation der Gewalt geht täglich weiter. Daniel Levy, Direktor des Nahost- und Nordafrika-Programms des European Council on Foreign Relations, schließt selbst eine Bodeninvasion der Israelis in Gaza nicht gänzlich aus. Die Politik von Premier Benjamin Netanjahu kritisiert er scharf.
Gewaltspirale dreht sich weiter: Eine Rakete wird aus Gaza Richtung Israel abgeschossen.derStandard.at: Raketen aus Gaza auf Israel, israelische Gegenangriffe - die Situation in diesen Tagen erinnert an 2008 und 2012. Welche Strategie verfolgt Israel dieses Mal?
Levy: Derzeit fehlt eine strategische Perspektive. Die einzige mögliche Zielvorgabe wäre, dass Israel jetzt den Sturz der Hamas-Regierung betreiben könnte. Aber das ist eine Minderheitsposition im israelischen Kabinett und im Sicherheitsapparat. Es gibt im Prinzip keine Antwort auf die Frage: was nun?
Soll die Hamas-Regierung entfernt werden? Wird Israel über eine längere Zeit den Gazastreifen wieder besetzen? Sollen die Ägypter die Kontrolle über Gaza übernehmen? Keiner hat eine Antwort auf diese Fragen. Und jeder, der sich ernsthaft damit beschäftigt, weiß, dass auch Israel keine Antwort auf diese Fragen hat. Hinzu kommt, dass eine Alternative zur Hamas den Gazastreifen am ehesten wie Somalia oder Teile des Irak aussehen lassen würde, und das ist letztlich noch gefährlicher für Israel.
derStandard.at: Stolpern die Israelis also von einer Situation in die nächste, ohne sich über einen Ausweg Gedanken gemacht zu haben?
Levy: Das derzeitige Ziel ist, den Eindruck zu erreichen, dass Israel gewonnen hat. Das ist aber ein Ziel, das sich ständig bewegt, und deswegen stolpert man von einer Aktion zur anderen. Derzeit ist der Eindruck, dass die Hamas Raketen tief in israelisches Gebiet abschießen konnte, und deswegen hat Israel nicht gewonnen. Aber was heißt gewinnen? Heißt es, dass Israel sogenannte terroristische Ziele ausgeschaltet hat? Heißt gewinnen, dass es an einem Tag keine Raketenangriff gegeben hat? Gewinnen wird zu einem beweglichen Begriff, und die Frage ist nur mehr, wie man es der Öffentlichkeit verkauft.
Solange wir also in der heißen Phase des Konflikts sind, so lange könnte Israel tiefer und tiefer hineinstolpern - bis hin zu einer Invasion. Aber jeder begreift, dass das keinen guten Ausgang nehmen kann.
Die strategische Alternative ergibt sich nicht aus dem, was in den nächsten Tagen passiert, sondern in den nächsten Wochen und Monaten. Die Frage ist, was in der Ruhephase des Konflikts geschieht. Hat man für die Zeit nach der heißen Phase ein Anreizsystem, durch das die Hamas mehr als nur einem zeitlich beschränken Waffenstillstand zustimmt? Meiner Meinung nach wird darüber in Israel nicht ausreichend nachgedacht - das sollte aber der Fall sein.
derStandard.at: In vorangegangenen Konflikten hat Ägypten immer einer bedeutende Rolle bei Verhandlungen über einen Waffenstillstand gespielt. Aber anders als die Regierung Morsi steht die derzeitige ägyptische Führung der Hamas sehr reserviert gegenüber. Wie stehen dann die Chancen für einen Waffenstillstand?
Levy: Das ist einer der Gründe, warum die jetzige Situation besorgniserregender ist als vorangegangene Konflikte. 2008/2009 brauchte man 22 Tage, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. 2012 gab es nach nur acht Tagen einen Waffenstillstand. Einer der Unterschiede war die Möglichkeit der Morsi-Regierung, mit der Hamas zu verhandeln.
Jetzt haben wir eine Situation, die noch schlimmer ist als 2008, denn selbst in der Ära Mubarak waren die Beziehungen Ägyptens zur Hamas nicht so schlecht, wie sie jetzt sind.
Sobald die Lage dazu führt, dass die ägyptische Regierung befürchten muss, die Stabilität im eigenen Land zu gefährden, oder dass die Regierung in Kairo für die Situation im Gazastreifen beschuldigt wird, würde das die ägyptische Regierung zwingen, eine aktivere Rolle zu spielen. Aber selbst dann wird man möglicherweise noch andere Akteure benötigen.
derStandard.at: In der Region werden immer öfter ultraradikale Gruppen nach dem Vorbild der ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) gegründet. Obwohl sie derzeit in Gaza noch kaum eine Rolle spielen - haben solche Gruppen Einfluss auf das Handeln der Hamas?
Levy: Ja, und auch Einfluss auf Israel. Die Hamas fühlt sich bedroht durch solche Gruppen, was auf der einen Seite bedeutet, dass sie dafür sorgen müssen, dass sich ihre Anhänger nicht zu dieser Ideologie hinbewegen. Auf der anderen Seite muss die Hamas auch aufpassen, dass diese besonders extremen Gruppen nicht genug politische Munition haben, um die Hamas beschuldigen zu können, dass sie Kollaborateure seien.
Immer mehr Menschen glauben mittlerweile, die Hamas verhalte sich wie die Palästinensische Autonomiebehörde. Das ist ein ernstes Problem für sie. Sie muss beweisen, dass ihr islamistisch-nationalistischer Widerstand noch existiert. Wenn Sie so wollen, muss die Hamas ihre rechte Flanke sichern.
Im Großen und Ganzen ist die palästinensische Gesellschaft immer noch eher nationalistisch als panislamisch ausgerichtet. Deswegen haben diese besonders radikalen Gruppen derzeit noch keinen Fuß in der Tür. Die Gefahr ist, dass die Alternative zur Hamas keine Kuscheltiere sind, sondern Gruppen, die ISIS ähneln.
Im israelischen Sicherheitsapparat begreift man das, das politische Establishment glaubt aber an die eigenen lächerlichen Phrasen. Ich sah den Pressesprecher des israelischen Premiers unlängst im Fernsehen, als er sagte, die Hamas sei wie die ISIS oder Boko Haram. Das ist lächerlicher Blödsinn. Sie wissen zwar, dass es nicht stimmt, nützen es aber für die eigene politische Propaganda und beginnen dann, an den eigenen Blödsinn zu glauben.
Die Gefahr besteht, dass Israel hier eine selbsterfüllende Prophezeiung schafft und wir in eine Situation geraten, in der die israelische Regierung die palästinensische Bevölkerung weiter radikalisiert.
derStandard.at: Mahmud Abbas scheint in der ganzen Situation überhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Täuscht der Eindruck?
Levy: Die vergangenen Tage sind furchtbar für Abbas, weswegen Netanjahu gegen ein paar mehr solcher Tage nichts hat. Israel will keinen Partner und hat Abbas auch nie als einen Partner behandelt. Die Palästinenser zu spalten macht für diese israelische Regierung Sinn.
Aber Abbas hat Optionen. Er hat eine internationale Vermittlung gefordert, er könnte zu den Ägyptern und anderen gehen und die Initiative übernehmen und zeigen, dass die Einheitsregierung ernst genommen werden kann. Bisher hat er aber die Initiative nicht übernommen. Er scheint auch selbst nicht zu wissen, was er will. Es gibt einen Teil der Fatah, der gerne sehen würde, dass die Hamas geschwächt wird. Aber vermutlich kommen beide palästinensischen Seiten aus dieser Situation geschwächt heraus.
derStandard.at: Auch in der israelischen Regierung scheint es derzeit zu krachen. Was passiert hinter den Kulissen?
Levy: Es ist derzeit schwer zu unterscheiden zwischen dem öffentlichen Getue und dem, was Netanjahus Regierungspartner wirklich von ihm wollen. Im Wesentlichen hat es damit zu tun, dass die einzigen Leute, die in der Regierung wirklich bedeutend sind, der Premier und sein Verteidigungsminister sind. Ich glaube, dass die beiden, egal was sie vorschlagen, im Kabinett eine Mehrheit finden können.
Es ist zwar richtig, dass Netanjahu Minister auf seiner rechten Flanke hat, die eine härtere Linie und möglicherweise eine Bodenoffensive wollen. Andere wiederum sind dagegen. Das macht das Treffen von Entscheidungen für Netanjahu schwieriger. Wenn sie Netanjahu kritisieren, tun sie das aber aus Gründen der PR, nicht um seine Entscheidung zu ändern.
Weil Israel eine Koalitionsregierung hat, die jederzeit enden kann, und man sich damit quasi in einem Dauerwahlkampf befindet, versucht jeder zu erreichen, dass seine Umfragewerte am nächsten Wochenende besser sind. Aber Netanjahu hat kein wirkliches Problem in seiner Regierung. Wenn er Führungswillen zeigen will, kann er ihn zeigen. Er trifft allerdings ungern Entscheidungen. Deswegen formt sein politisches Umfeld seine Entscheidungen mehr als er selbst.
derStandard.at: Nach der Entführung von drei israelischen Jugendlichen steht Netanjahu innenpolitisch unter Druck zu handeln. Die öffentliche Debatte darüber hat er aber auch selbst forciert. Inwiefern hat er einen Teil dieses Drucks selber aufgebaut?
Levy: Ich bin überzeugt, dass in den vergangenen Wochen etwas sehr Zynisches passiert ist. Ich glaube, die Einschätzung der israelischen Geheimdienste war, dass die Jugendlichen vom ersten Tag an tot waren. Netanjahu entschied sich, eine andere politische Position einzunehmen, die nicht auf der Einschätzung der Geheim- und Sicherheitsdienste basierte, und das als eine Entführung zu behandeln. Damit hat er eine andere öffentliche Stimmung erzeugt.
Er ging hart gegen die Hamas vor, ließ politische Akteure und Leute, die während des Shalit-Gefangenenaustauschs freikamen, festnehmen. Er provozierte die Hamas und fuhr eine diplomatische Kampagne gegen Abbas und die Einheitsregierung. Indem er den ganzen Fall als Entführung behandelte, gab ihm das mehr Zeit, mehr solcher Handlungen zu setzen.
Aber er hat natürlich auch das Feuer und die Rufe nach Rache angefacht, deswegen ist die Einschätzung, dass Netanjahu unter großem Druck steht, ein wenig falsch, weil das Druck ist, den er selbst aufgebaut hat. ( Stefan Binder, derStandard.at, 10.7.2014)