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Duisburger Fotograf: So ist mein Leben mit Zwangsstörungen

Foklafie hat seit Jahren eine Zwangsstörung. Sie bestimmt nicht nur sein Denken, sondern sein ganzes Leben. Nur beim Fotografieren kann er abschalten. Foto: FUNKE Foto Services

Der Duisburger Fotograf Foklafie hat seit Jahren eine Zwangsstörung. Wie die Krankheit nicht nur sein Denken, sondern sein ganzes Leben bestimmt.

Foklafies Kopf ist voll. Voll mit den Zahlen, die ihn im Griff haben. Er fürchtet sich vor ihnen, sie lösen Panik in ihm aus. Denn wenn er sie sieht, passiert etwas Schlimmes: Todesfälle, Unglücke oder Naturkatastrophen. Davon ist Foklafie überzeugt. Der Duisburger, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte und daher unter seinem Künstlernamen spricht, lebt seit Jahren mit magischem Denken.

Von Zwangsstörungen wie dieser sind zwei bis drei Prozent aller Deutschen betroffen. Die bekanntesten Formen der Erkrankung sind etwa Wasch-, Kontroll-, oder Symmetrie- und Ordnungszwänge. Sie bestimmen häufig nicht nur die Gedanken der Betroffenen, sondern ihr ganzes Leben.

„Es schlaucht unheimlich. Mein Körper ist immer auf Alarmstufe. So richtig entspannt sitzen kann ich eigentlich gar nicht mehr", sagt Foklafie, als er in einem Restaurant am Duisburger Innenhafen Platz nimmt. Sein Blick wandert konzentriert durch den Raum. Er ist auf der Suche: nach einer Null oder einem O.

Sie können ihn retten, wenn er eine „schlimme" Zahl sieht, bringen seine Gedanken wieder in Ordnung. Zumindest für eine kurze Zeit. „Neutralisieren" nennt Foklafie das. Er zeigt auf die Speisekarte, die mit dem Namen des Restaurants bedruckt ist: Faktorei. Ein O. Erleichterung. Vor mehr als fünf Jahren haben sich die Zwangsgedanken in seinem Kopf eingenistet.

Zu der Zeit sei er noch ein „richtiger Karrieremensch" gewesen, habe für die Arbeit gelebt, fuhr ein schickes Auto, war generell „ein bisschen oberflächlich" und eigentlich immer unter Zeitdruck - bis er im Spanienurlaub zusammenbrach. Auf eine Panikattacke folgte die nächste, dann die Diagnose: Angststörung.

„Als ich in der Reha war, habe ich gemerkt, dass ich Dinge irgendwie anders interpretiere als sonst. Ich habe immer mehr auf Zahlen, auf Buchstaben, auf Hinweise oder Zeichen geachtet", erinnert sich der heute 38-Jährige. Er zählte die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster schienen, passte auf Nummernschilder, Uhrzeiten und die Lautstärke vom Fernseher auf. Zunächst sprach er mit niemanden über „den Quatsch, den ich mir da in meinem Kopf zusammengesponnen habe".

Doch als die Gedanken überhandnahmen, er zum Beispiel jeden kleineren Gegenstand in seiner Wohnung nach links oben ausrichten musste und das Haus nicht mehr verlassen konnte, ohne einen bestimmten Punkt in der Raufasertapete zu fixieren, vertraute er sich seinem Therapeuten an: „Er hat eigentlich immer zu allem gesagt: Wir schaffen das. Aber als ich ihm das erzählt habe, meinte er nur: ,Junge, ich kann dich nicht weiter behandeln. Das ist mir zu Hardcore'." Für Foklafie begann daraufhin ein Marathon - von Klinik zu Klinik, von Praxis zu Praxis. Währenddessen habe er sich oft gefühlt wie ein Versuchskaninchen.

Psychologe aus Münster kritisiert: Zu wenig Experten für Zwangsstörungen

Dass es zu wenig Expertinnen und Experten gibt und noch viel mehr zu Zwangsstörungen geforscht werden müsse, kritisiert auch Thomas Hillebrand. Der Psychologe ist im Vorstand der „Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen" und betreut seit mehr als 30 Jahren Betroffene in seiner Münsteraner Praxis. „Was die Ursachen für eine Zwangsstörung sind, darauf gibt es keine einfache Antwort. Oder die einfache Antwort ist: Wir wissen es noch nicht genau", sagt Hillebrand.

Feststehe, dass sich bei Betroffenen „gewisse Besonderheiten in der neuronalen Verarbeitung" erkennen ließen. In seiner jahrelangen Arbeit mit Patientinnen und Patienten habe er außerdem feststellen können, dass diese häufig einen „eher angstvollen Blick auf die Welt" haben, meist sehr gewissenhaft sind und generell dazu neigen, „sich über viele Dinge einen Kopf zu machen".

Sie leiden außerdem an einem ständigen Unvollständigkeitsgefühl, wie Hillebrand am Beispiel eines Kontrollzwanges erklärt: „Wenn man vor dem Verlassen der Wohnung einmal kontrolliert, ob das Glätteisen aus ist, ist das völlig okay. Kritisch wird es, wenn man sich nach dem ersten Kontrollieren fragt: Ist es wirklich aus? Oder habe ich möglicherweise beim Umdrehen versehentlich den Schalter wieder angestellt? Der Patient sieht zwar, dass die Dinge aus sind. Aber er fühlt es noch nicht. Aus diesem Widerspruch heraus fühlt er sich gedrängt, noch mal zu gucken, und noch mal, und noch mal. Betroffene kontrollieren mitunter auch 30 Minuten lang, ob sie den Herd wirklich ausgemacht haben."

Während der Behandlung unterstütze er die Zwangspatienten dabei, sich mit ihren Ängsten auseinanderzusetzen. So vereinbare er mit ihnen etwa, dass sie das Haus verlassen, ohne den Herd zu kontrollieren oder die gefürchtete „dreckige" Türklinke anfassen, ohne sich danach die Hände zu waschen.

Wichtig bei dieser Form der Konfrontationstherapie sei, dass sie sich nicht auf die Räumlichkeiten der Praxis beschränke, sondern auch im natürlichen Umfeld der Betroffenen stattfinde. „Das Grundprinzip der Konfrontation hört sich vielleicht trivial an, ist aber für die Patienten sehr schwierig allein umzusetzen", so der Experte.

Dabei wüssten Betroffene sehr wohl, dass ihre Zwangshandlungen unlogisch sind. „Ich weiß, dass die Zwänge keinen Sinn ergeben, dass meine Ängste nicht real sind", sagt auch Foklafie. Trotzdem wache er manchmal schon „völlig fertig" auf, mit unheimlichem Augendruck, Herzrasen und Schwindel. Anderen zu erklären, wie sich die Zwangsgedanken anfühlen, welche Kontrolle sie über ihn haben, falle ihm schwer.

„Im Bekanntenkreis gab es viele böse Blicke. Viele haben es nicht für voll genommen und gesagt: Stell dich nicht so an, ist doch nur dein Kopf. Es wird abgetan als eine persönliche Schwäche, nicht als eine Erkrankung", kritisiert er. Mit seinen Freunden und seiner Familie kann er hingegen offen über alles sprechen. „Ohne ihre Hilfe hätte ich es nicht geschafft", sagt er mit Blick auf die „Hochphase" seiner Zwänge, in der es ihm nicht möglich gewesen wäre, überhaupt in einem Restaurant zu sitzen.

Neben seinen Freunden und seiner Familie gibt es für Foklafie noch einen zweiten „Lebensretter": die Fotografie. Die Ausflüge mit seiner Kamera waren für ihn lange Zeit der einzige Grund, das Haus zu verlassen. Am liebsten ist er nachts in seiner Heimatstadt Duisburg unterwegs, wenn der Innenhafen und der Landschaftspark in bunte Lichter getaucht sind, er die Straßen ganz für sich allein hat - und wenigstens für einen kurzen Moment frei sein kann von den Zwängen.

„Wenn ich fotografiere, ist Ruhe. Danach geht es wieder los. Ich habe das Foto gemacht, ein Auto fährt vorbei, das Nummernschild ist doof, dann muss ich wieder neutralisieren", sagt er. „Es ist immer nur für einen kurzen Augenblick. Aber dadurch, dass ich viele Fotos mache, sind es viele kurze Augenblicke, bei denen ich abschalten kann."

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