ak[due]ll: Wir starten mal mit einer abgedroschenen Phrase: „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast." Ist Datenjournalismus im Diskurs um Fake News und gefühlte Wahrheiten nicht unattraktiv geworden?
Christina Elmer: Aus meiner Sicht ist tatsächlich das Gegenteil der Fall. In dem Moment, in dem wir die Statistiken und Datensätze selbst einschätzen können, müssen wir nicht die Analysen und Ausdeutungen von anderen übernehmen. Denn dann können wir Informationen überprüfen und unsere eigenen Schlüsse daraus ziehen. Mir geht es darum, Journalist:innen zu ermächtigen: Sie sollen eine Evidenz für bestimmte Aussagen und Hypothesen selbst herbeischaffen und überprüfen können, was man ansonsten einfach glauben müsste. Es geht beim Datenjournalismus also darum, Werkzeuge an die Hand zu bekommen, um mit Datenquellen und digitalen Informationen im Allgemeinen strukturierter und dadurch besser umgehen zu können.
ak[due]ll: Viele sind froh, Mathe nach der Schule los zu sein. Sie sind mit Zahlen überfordert und haben Angst, von Fake News in Statistiken hereingelegt zu werden oder wahrheitsgemäße Zahlen fehlzuinterpretieren. Was macht denn Spaß am Umgang mit Daten?
Elmer: Grundsätzlich hilft jeder Meter, den man da nach vorn gehen kann. Auch wenn der Weg zum Statistik-Profi weit ist, kann man sich viel Verwirrung ersparen, wenn man sich zumindest das Statistik-ABC draufschafft, wozu dann unter anderem gehört, Prozente von Prozentpunkten unterscheiden zu können. Das ist ja auch wichtig in einer Gesellschaft, die zunehmend mit Zahlen, Daten und Fakten umgehen muss. Nicht nur während der Pandemie, sondern zum Beispiel auch beim Klimawandel und Fragen, wie wir damit umgehen können.
Außerdem kann man häufig, wenn man mithilfe von Daten abstrahiert, Dinge sehen, die ansonsten in der Fülle des Lebens verwischen. Das finde ich persönlich immer wieder faszinierend. Wir können so Strukturen und Phänomene wie beispielsweise Diskriminierung sichtbar machen. Es ist wichtig, das erst einmal nachweisen zu können, um dem etwas entgegenzusetzen. Wir brauchen schließlich gute Belege, wenn wir Probleme in unserer Gesellschaft anprangern oder Lösungen vorschlagen. Wenn es zum Beispiel darum geht, wie wir effektiv mit Ressourcen umgehen und länger auf diesem Planeten leben können, dann muss man Szenarien zeigen, und sagen: Wenn du deinen Lebenswandel soundso weit einschränkst, dann hast du einen Effekt von X Prozent. Das sind ganz wichtige Funktionen von Statistiken, gerade auch in der heutigen Zeit.
ak[due]ll: Alle Journalist:innen gehen mit Daten um. Wir schreiben Artikel über Forschungsergebnisse und Umfragen. Wo ist da die Grenze, ab wann brauche ich die Expertise von Datenjournalist:innen?
Elmer: Die Grenze würde ich gar nicht so hart ziehen. Wir wollen mit der Professur in Dortmund den Datenjournalismus in die Breite der journalistischen Ausbildung noch stärker verankern. Es gibt aber auch Fälle, die für herkömmliche Journalist:innen zu speziell sind und in denen es gut ist, Expert:innen zu haben - etwa bei größeren Datensätzen, oder wenn man ein kleines Experiment selbst aufstellen oder Daten so erheben will, dass man sie am Ende auch nutzen kann. Für solche Projekte ist es oft hilfreich, wenn Journalist:innen Programmierkenntnisse mitbringen, Fähigkeiten in der Analyse komplexer Statistiken haben oder auch Erfahrungen aus den empirischen Wissenschaften. Dafür brauchen wir Spezialist:innen aus dem Datenjournalismus.
ak[due]ll: Wie muss man sich die Arbeit einer Datenjournalistin vorstellen? Wie sieht Datenjournalismus in Ihrem eigenen Arbeitsalltag aus?
Elmer: Das beginnt schon beim tagesaktuellen Bericht, in dem wir kleine Analysen machen. Ein gutes aktuelles Beispiel ist die Coronapandemie, in der Datenjournalist:innen täglich neue Beiträge verfassen über die Entwicklung von Inzidenzen, Wellen, Impfungen und Virusvarianten. Da geht es darum, in der tagesaktuellen Berichterstattung etwas beizutragen, das wir aus sonstigen Quellen nicht erfahren können. Die Arbeit von uns Datenjournalist:innen reicht aber auch bis hin zu großen Leaks, an denen Teams teilweise ein halbes Jahr sitzen und mit ganz unterschiedlichen Methoden versuchen, diese oft unstrukturierten großen Mengen an Dokumenten ganz unterschiedlicher Form erst einmal zu sichten und in ein Format zu bringen, in dem man sie gut durchsuchen und gezielt auswerten kann. Gemeinsam mit den Datenjournalist:innen des Bayerischen Rundfunks haben wir beispielsweise geprüft, ob Menschen mit ausländisch klingenden Nachnamen auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert werden. Das war sehr viel Arbeit, und da mussten wir vorab einschätzen: Wie viele Fälle brauchen wir? Wie können wir die Daten so kategorisieren, um daraus am Ende auch etwas ableiten zu können?
ak[due]ll: Datenjournalismus kann also, muss aber nicht investigativ sein, oder?
Elmer: Genau. Beim investigativen Journalismus geht es immer darum, relevante Sachverhalte durch eine intensive Recherche ans Tageslicht zu bringen - oftmals gegen Widerstände. So kann auch schon ein kleines datenjournalistisches Projekt schnell investigativ werden, weil man spannende Ausreißer entdeckt, bei denen es sich wirklich lohnt, mal hinzuschauen. Zum Beispiel Regionen, die sich gegen den Trend entwickeln. Dahinter können Missstände oder Entwicklungen stecken, die aufgedeckt und öffentlich diskutiert werden sollten. Oder die Geschichte ist eine gute - dann können Journalist:innen eine Reportage darüber schreiben, wie sich andere Regionen nach diesem Vorbild verhalten könnten. Solche Ergebnisse sind wie kleine Goldnuggets, aus denen man viel machen kann.