Neun Stunden lang haben Bund und Länder in der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz darüber diskutiert, welche Maßnahmen nun gegen das Coronavirus in Kraft treten sollen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller beschrieb die Ergebnisse mit den folgenden Worten: „Jeder kann eins zu eins nachvollziehen: Wo stehen wir jetzt, und worauf kann ich mich einrichten? Was ist für mich, für meinen Bereich die nächste Perspektive?" Dann zählt er die Bereiche auf, die er als „die, bei denen viele drängende Fragen haben" beschreibt: Sport, Kultur, Theater, Museen, Galerien, Einzelhandel, Freizeitbereiche, Jugendsport.
In Deutschland gibt es fast drei Millionen Studierende. Und die haben sehr drängende Fragen. Zu Beginn der Pandemie wurden die Universitäten geschlossen. Seither hat keine Ministerpräsidentenkonferenz mehr ein Wort über sie verloren. Die Bibliotheken sind großteils geschlossen, Prüfungen finden online unter teils schlechten Bedingungen oder in Präsenz statt, wozu Studierende aus dem gesamten Bundesgebiet anreisen müssen und wo beispielsweise in Ansbach ein infizierter Student mitschrieb und am Ende alle 98 Teilnehmenden in Quarantäne mussten. Viele Studierende haben in der Krise ihren Job verloren und müssen zusehen, wie sie ihre Miete bezahlen können.
Drei Millionen Menschen werden ignoriertOb eine Klausur online oder in Präsenz stattfindet, erfahren Studierende oft erst wenige Tage vor der Prüfung. Wenn während der Klausur das WG-Wlan in die Knie geht oder Studierende sich zum Eigenschutz weigern, an einer Präsenzprüfung teilzunehmen, Lehramtsstudierende ihre Lehrprobe online abhalten müssen, obwohl sie darauf im Studium nie vorbereitet wurden, haben sie Pech gehabt. Hier entscheidet bislang weitgehend jede Universität und jeder Lehrstuhl nach eigenem Gusto.
Klar, zu Beginn der Pandemie waren andere Fragen drängender. Wie können wir unsere Lebensmittel möglichst sicher einkaufen, wie schützen wir Kinder, und woher bekommen wir Masken. Aber nachdem nun ein Jahr lang bei jeder Ministerpräsidentenkonferenz lang und breit über die Öffnung und Schließung von Schulen, die Halbierung von Klassen, die Digitalisierung von Schulen, die Sonderbehandlung von Abschlussklassen, die Einsortierung von Grundschullehrer:innen in die eine oder andere Gruppe für Impfungen debattiert wurde, hat immer noch niemand ein Wort über die Studierenden verloren. Während das Land zwischen härteren Maßnahmen und Lockerungen hin- und herwechselt, befinden sich die drei Millionen Studierenden Deutschlands seit einem Jahr im Lockdown ohne Perspektive.
Wir sind verdammt systemrelevantStudierende können vieles gut aus dem Homeoffice erledigen, eine Öffnung der Universitäten hin zum Präsenzbetrieb würden sie zurecht nicht mitmachen. Und die Landesministerien für Wissenschaft geben mit ihren Verordnungen zu Teilbereichen eine Richtung vor, an die sich die Universitäten zu halten haben. Aber wie genau Lehre und Lernen in der Pandemie funktionieren sollen, ist eine höchst politische Frage. Sie ist für einen großen Teil der Gesellschaft relevant und muss darum auf die politische Agenda und in öffentliche Debatten.
Wir sind sicherlich nicht so systemrelevant wie medizinisches Personal. Aber unser Lernen, unsere Noten, unsere Abschlüsse, unsere psychische Gesundheit und unsere finanzielle Sicherheit sind seit einem Jahr in Gefahr. Und wenn wir mal nachrücken sollen in all die systemrelevanten Berufe, möglichst mit guten Noten, viel Erfahrung und in Regelstudienzeit, dann sollte das nicht das erste Mal sein, dass man über die Frage spricht, wie Studium in der Pandemie funktionieren soll. Denn dann ist es zu spät.