Mira Salomon : Nein, so ist es nicht. Erstmal geht es um Sprache. Das Wort „Penetration" zum Beispiel stellt einen Aktiv-Passiv-Zusammenhang her, jemand wird penetriert. Als Alternative gibt es das Kunstwort Circulation, man umschließt etwas, nimmt es auf. Damit ändert sich alles, plötzlich bin ich der aktive Teil, ich nehme jemanden auf und lasse ihn in meinen Körper rein. Sprache hat also eine große Macht, darum ist es mir wichtig, sich am Anfang des Workshops damit auseinanderzusetzen, welche Begriffe man verwendet. Dann sprechen wir über die Klitoris. Ich hatte bis vor wenigen Jahren noch keine Ahnung, was für ein absolutes Power-Ding das ist, und dass sie nicht nur die kleine Erbse ist, die mir mein Biolehrer gezeigt hat. Und danach sprechen wir über Lust. Da ist ein unfassbarer Redebedarf. Die weibliche Lust bleibt sehr häufig, gerade wenn Frauen mit Männern schlafen, hinten angestellt. Als letztes mache ich immer eine kleine Körpereinheit, eine Beckenbodenübung.
Salomon : Wenn man jemanden auf der Straße fragt, was Sex ist, ist die Antwort wahrscheinlich: „Ein Penis in einer Vagina." Das Verrückte ist: Wenn man mit Leuten länger über Sex redet, geht es ganz schnell nicht mehr um den Körper, sondern um Kommunikation, um Macht oder Normen. Unsere Sexualität ist geprägt von der Kultur, in der wir aufwachsen, von den Medien, die wir konsumieren, von den Bildern, die uns vorgelebt werden. Am unmittelbarsten geht das in der Pornografie. Es gibt konsensuelle, aufregende, aufgeklärte Pornografie, aber es gibt auch viel geskripteten Mainstream-Porn. Küssen, Oralverkehr, Penetration, sie schreit, er kommt. Das akzeptieren wir als unsere Norm. Und zwar nicht nur Männer, die dabei den Vorteil haben, sondern auch Frauen. Sex könnte aber für viele viel besser sein. Wir müssen umlernen, und darum geht es in meiner Arbeit.
Salomon : Das ist eine schöne Idee (lacht). Auf der einen Seite verstehe ich völlig, woher der Wunsch kommt. Mein erstes Mal war auch grauenvoll und ich hätte mir natürlich auch gewünscht, dass mir das erspart bleibt. Ich finde aber, man stellt Sex auf einen zu hohen Sockel. Vielleicht sollten wir es so betrachten wie Essen. Als ich mit um die 20 von zuhause ausgezogen bin, habe ich viel Trash gegessen, aber irgendwann habe ich verstanden, was ich gerne esse und was mir guttut. Und so ist es mit Sex auch. Die Pubertät ist die Zeit, in der man sich ausprobiert und aus schlechten Erfahrungen lernt, was man mag und was nicht. Solange dabei niemand langfristig zu Schaden kommt, ist das wichtig. Aber was sexuelle Bildung in der Schule betrifft, gehe ich völlig mit. Es reicht nicht, wenn man nur über Anatomie spricht, über hetero- und cis-normativen Sex und dann darüber, welche schlimmen Dinge passieren können. Das bereitet Menschen nicht vor.
Salomon : Sex ist ein riesiges Scham-Thema. Auch ich kann nicht mit jedem Menschen über meinen Sex reden. Das liegt massiv daran, dass wir keine richtige Sexkultur in unserer Gesellschaft haben. In den 1920ern gab es in Berlin ein Institut für Sexualwissenschaft, im antiken Indien gab es Kamasutra und so weiter. Irgendwie ist das hier verschütt gegangen, daher die Sprachlosigkeit und Beklemmung. Das Perfide daran ist, dass wir uns vorgaukeln, wir hätten eine Sexkultur, weil man überall Sexualität sieht. An jeder Straßenecke findet man Werbung mit viel nackter Haut, Pornografie ist so zugänglich wie nie zuvor. Aber trotzdem können die Leute nicht darüber reden. Dass Sex trotzdem so allgegenwärtig ist und uns sagt, dass wir darüber ganz offen sprechen und super viel guten Sex haben sollten, erzeugt Stress. Und wenn eins für Sex kacke ist, dann ist es Stress. (lacht) Es gibt ein Modell von Gaspedal und Bremse. Wir brauchen nicht nur die Dinge, die uns antörnen, sondern es sollte uns auch nichts bremsen. Das kann sowas sein wie innere Ansprüche, aber auch Gedanken wie „Fuck, ich hab morgen ein Referat". Oder wenn man mit dem eigenen Körper unzufrieden ist. Themen, die gar nichts mit Sex zu tun haben, schleichen sich in unser Bett.
Salomon : Schlecht im Bett, da habe ich ein Bild im Kopf von einem Typen, der einfach losrammelt, oder ein Mädel, das lethargisch rumliegt und sich nicht beteiligt. Aber die beiden sind nicht falsch, das liegt wahrscheinlich daran, dass sie ein sexuelles Skript haben, das ihnen so vermittelt wurde. Es gibt da kein Gut oder Schlecht per se, das würde meinen, dass man eine Normalität erreicht. Aber um eine für sich erfüllte Sexualität zu finden, geht es darum, herauszufinden: Was tut mir gut? Und dann muss man das mit den Bedürfnissen der Partner:innen zusammenbringen und darüber reden können.
Salomon : Ich bin sicher, es gibt Menschen, die erfüllenden Sex haben, ohne mit ihrem Partner darüber zu sprechen oder einen Orgasmus zu haben. Auch das gehört zur Vielfältigkeit von Sexualität, dass auch das sein darf. Es ist nicht meine Art, anderen zu sagen, wie sie leben sollen. Aber man muss auch sagen: Wir wissen inzwischen, dass durch reine Penetration mehr als die Hälfte aller Frauen keinen Orgasmus haben kann. Und Statistiken zeigen einen grauenvollen Orgasmus-Gap. Wenn Männer mit Frauen schlafen, haben Männer ungefähr so häufig einen Orgasmus, wie wenn sie masturbieren. Wenn Frauen masturbieren, haben sie ungefähr genauso häufig einen Orgasmus wie masturbierende Männer. Aber wenn Frauen mit Männern schlafen, fällt ihre Orgasmusrate auf 65 Prozent. Solange es hier kein gutes pädagogisches Angebot für heterosexuelle Menschen gibt, wird es noch lange so sein, dass Frauen in der Verantwortung stehen, zu sagen: Warte mal Schätzchen, es läuft nicht alles so gut, wie du glaubst. Und da wird es auch schon wieder politisch. (lacht)