„Das Erlernen von Operationen ist Teil der Facharztausbildung", erklärt Dr. Milena Hänisch auf Anfrage an die Medizinische Fakultät in Essen. Sie verschiebt damit die Verantwortung auf den Lernweg von Ärzt*innen nach dem Studium. Eine Abtreibung gehöre zu den einfachsten Eingriffen in der Frauenheilkunde, er werde bereits in den ersten Ausbildungsjahren ausführlich gelehrt und von allen Fachärzt*innen beherrscht, behauptet sie weiter.
Tatsächlich werden viele operative Eingriffe nicht praktisch im Studium gelehrt. Allerdings: Eine Blinddarmoperation lernen angehende Chirurg*innen oder Allgemeinmediziner*innen regulär in der Facharztausbildung. Damit kommen sie zwangsläufig im Krankenhaus in Berührung, wo die allermeisten Mediziner*innen zu Fachärzt*innen ausgebildet werden. Nur die wenigsten Abtreibungen werden in Krankenhäusern durchgeführt, weil diese den Eingriff selten anbieten. Das kann daran liegen, dass sie konfessionell sind und Abtreibungen von der Kirche eher abgelehnt werden, oder am schlechten Renommee von Schwangerschaftsabbrüchen gegenüber anderen Eingriffen. Abtreibungen werden also klassischerweise in Praxen ausgeführt und fallen so aus der Fachärzt*innenausbildung. Also kann man in Deutschland Gynäkolog*in werden, ohne auch nur einmal eine Abtreibung durchgeführt zu haben.
Abtreibung ist nicht gleich AusschabungAußerdem beruft sich Hänisch darauf, dass eine Abtreibung einer Ausschabung ähnlich wie bei einer Fehlgeburt entspreche. In der Vorlesung über Pränataldiagnostik lehre man auch die Theorie von Abtreibungen. Das kritisieren viele, zum Beispiel die Initiative Medical Students for Choice, die sich für die praktische Lehre von Abtreibung im Studium einsetzt. „Eine Ausschabung ist veraltet und überholt und sollte aufgrund der höheren Komplikationsrate nicht mehr durchgeführt werden", fordert die Gruppe und rät zu den heute auch in Deutschland viel häufiger durchgeführten Methoden mittels Absaugung oder Medikamenten.
Die Gruppe setzt sich auch für eine klare Trennung zwischen Abtreibungen und einer Ausschabung ein. Abtreibungen werden bis zur 12. Schwangerschaftswoche auf Wunsch der Schwangeren durchgeführt; die Ausschabung ist eine Methode, die nach Pränataldiagnostik einen möglicherweise viel älteren und größeren Embryo mit Fehlbildungen oder Krankheiten entfernt - eine Unterscheidung, die im Essener Lehrplan nicht gemacht wird.
Zahlen zum Mangel sind in Essen unbekanntAuf die Frage, wie die Essener Fakultät für Medizin ihre Rolle bezüglich des Mangels abtreibender Ärzt*innen sieht, antwortet Hänisch: „Uns liegen keine Daten darüber vor, ob es einen generellen Ärzt*innenmangel in diesem Bereich in Deutschland gibt. Tatsächlich gehen wir aber nicht davon aus." Laut Statistischem Bundesamt ist seit 2003 die Anzahl der Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, um 40 Prozent auf ca. 1.200 zurückgegangen. Medien berichten darüber, Beratungsstellen beklagen öffentlich den Mangel. Diese Debatte scheint in der medizinischen Wissenschaft - zumindest in Essen - nicht angekommen zu sein. Gerade an der Stelle, die in der Lehre den Grundstein für einen Aufschwung legen könnte.
Hänisch verweist bei der Frage nach Verantwortung für den Ärzt*innenmangel auch darauf, dass sich Schwangere vor einer Abtreibung beraten lassen müssen. „Die Beratungsstellen vermitteln sie dann an entsprechende Einrichtungen. Unserer Erfahrung nach sind die Beratungsstellen mit der Materie und dem örtlichen Netzwerk sehr gut vertraut, sodass betroffene Frauen die Informationen erhalten, die sie benötigen." Doch was, wenn in der Region einer solchen Beratungsstelle die Ärzt*innen nach und nach in Rente gehen und keine jungen Nachfolger*innen die Aufgabe übernehmen?
Berliner Studierende üben an PapayasPro Familia, eine der Organisationen, die die verpflichtende Beratung vor einer Abtreibung anbietet, beklagt auch in NRW öffentlich einen eklatanten Mangel: Im Sauerland, im Münsterland, in Teilen von Westfalen und in der Eifel gebe es so gut wie keine Ärzt*innen, die einen Abbruch durchführen, so Pro Familia zum WDR. Auch die Versorgung im Ruhrgebiet wird schon in naher Zukunft problematisch, warnt Carla Roder von Pro Familia in Bochum im Interview mit der akduell. „Wir beobachten ein Generationenproblem: Ältere abtreibende Ärzte gehen in Rente, und kaum junge Ärzte übernehmen ihre Aufgabe. Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist nichts wert, wenn es keine Möglichkeit gibt, ihn durchzuführen." Ihre Kollegin Dorothee Kleinschmidt zeigt die Folgen des Mangels auf: „Frisch operierte Frauen sollten keine langen Fahrten auf sich nehmen müssen. Das Recht auf freie Arztwahl ist aktuell deutlich eingeschränkt", kritisiert sie.
Die Gruppe Medical Students for Choice bietet an der Berliner Charité selbstorganisierte Workshops zu Schwangerschaftsabbrüchen an. Weil diese auch dort nicht praktisch gelehrt werden, organisiert die Initiative mit Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, Übungen an Papayas. Damit wollen sie den Mangel an Ärzt*innen ganz praktisch bekämpfen, hoffen aber auch auf eine gesellschaftliche Änderung: „Wir wollen den Schwangerschaftsabbruch durch Wissensvermittlung entstigmatisieren, den Studierenden die Angst vor dem Eingriff nehmen und sie anregen, darüber nachzudenken, ob sie sich als angehende Gynäkolog/innen vorstellen können, den Abbruch selbst durchzuführen", erklären sie im Interview mit dem Deutschlandfunk. Gedanken, die man sich an den meisten Unis offenbar nicht macht - genauso wie in Essen.