Am 4. September 1990, kurz vor der Wiedervereinigung, besetzten DDR-Bürgerrechtler ein zweites Mal die frühere Stasi-Zentrale in Berlin. Ihr Ziel: die Stasi-Akten vor der Vernichtung zu bewahren sowie eine Verlagerung ins Koblenzer Bundesarchiv zu verhindern.
Dies glückte. So wurde schließlich die eigenständige Stasi-Unterlagen-Behörde geschaffen, anfangs geleitet von Joachim Gauck, später von Marianne Birthler und seit 2011 von Roland Jahn. Weltweit erstmals bekamen Bürger die Möglichkeit, Informationen einzusehen, die ein Geheimdienst über sie gesammelt hatte. Bis heute verwaltet die Behörde 111 Kilometer an Schriftstücken, 1,7 Millionen Fotos und mehrere Tausend Videos aus Stasi-Zeiten.
An diesem Donnerstagnachmittag nun wird der Bundestag über das Ende der Jahn-Behörde in der bisherigen Form entscheiden. Eine Beschlussvorlage sieht vor, dass die Akten bis 2021 in die Zuständigkeit des Bundesarchivs überführt werden. Roland Jahn verteidigt die Pläne. Es gehe darum, "die Kompetenzen, die Technik und Ressourcen zu bündeln" und die Digitalisierung der Stasi-Akten voranzubringen, sagte der Behördenleiter dem Deutschlandfunk. Doch unter früheren DDR-Bürgerrechtlern regt sich Kritik an diesen Plänen.
Im SPIEGEL-Interview erzählt der Historiker und DDR-Dissident Ilko-Sascha Kowalczuk, der selbst für die Behörde arbeitet, warum er die Eingliederung ins Bundesarchiv für eine schlechte Idee hält, welche Probleme er in der Erinnerung an die DDR sieht - und wie es um die deutsche Einheit heute steht.
SPIEGEL: Was denken Sie über die Überführung der Stasi-Akten ins Bundesarchiv?
Kowalczuk: Es ist ein denkbar ungünstiges Zeichen, dass die Behörde jetzt im dreißigsten Jahr der ostdeutschen Revolution aufgelöst werden soll. Die Stasi-Unterlagen-Behörde ist mehr als ein Archiv. Sie steht wie keine andere Institution für die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur. Auch international gilt sie als beispielgebend, als Leuchtturm der Aufarbeitung. Ihre Überführung in das Bundesarchiv wirkt nun wie ein Schlussstrich unter diese Aufarbeitung. Das spielt allen Revisionisten in die Hände, die die DDR weichzeichnen und ihren Diktaturcharakter leugnen wollen.
SPIEGEL: Aber die Anzahl der Anträge auf Einsicht in die Akten nimmt doch ab, warum braucht es weiterhin eine eigene Behörde?
Kowalczuk: Die Institution besitzt eine große Symbolkraft. Viele Errungenschaften wie Presse- oder Versammlungsfreiheit gab es im Westen schon vor der Revolution im Osten. Aber die Öffnung von Geheimpolizeiakten für die Öffentlichkeit war etwas komplett Neues. Natürlich verlangen heute weniger Betroffene Akteneinsicht. Ich bin aber überzeugt, dass die Akten noch lange für viele von Interesse sein werden, für die Forschung und die Öffentlichkeit ohnehin. Die Behörde arbeitet in allen ostdeutschen Bundesländern und macht zudem weitaus mehr, als nur Akten herauszugeben. Damit soll nun Schluss sein. Warum? Es wird damit kein Cent eingespart. Und die Forderung, den Osten durch die Ansiedlung von mehr Bundesbehörden zu stärken, wird mit dem Abbau dieser Behörde konterkariert.
SPIEGEL: Wie war es für Sie, als Sie Ihre eigenen Stasi-Akten das erste Mal einsehen konnten?
Kowalczuk: Ich habe das eher mit einem professionellen Interesse zur Kenntnis genommen. Aber Überraschendes war für mich nicht dabei. Außer in der Akte meines Vaters.
SPIEGEL: Was hat Sie daran überrascht?
Kowalczuk: Mein Vater hatte mir erzählt, dass er als junger Mann gern für die Stasi gearbeitet hätte. Aber ich wusste nicht, warum es nie dauerhaft dazu kam. In seiner Akte habe ich dann den Grund dafür entdeckt. Die wollten ihn nicht, weil er sich nicht traute, seiner Mutter seinen Austritt aus der katholischen Kirche zu gestehen. Er wollte sie nicht enttäuschen. Das im Nachhinein zu lesen, war schon witzig.
SPIEGEL: Welche Probleme sehen Sie in der Art, wie heute an die DDR erinnert wird?
Kowalczuk: Wir haben im Prinzip seit der Revolution drei Jahrzehnte lang erzählt, dass damals das ganze Volk auf die Straße gegangen ist, gemeinsam die Mauer eingerissen hat und alle die deutsche Einheit wollten. Da kann ich als Historiker nur sagen: Alle drei Aussagen sind Mythen. Das war damals eine Minderheit. Wir vergessen zu häufig, dass auch die Gesellschaft im Osten sehr heterogen ist und in der DDR sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat. Viele haben die SED-Herrschaft unterstützt. Daher haben sich viele Ostdeutsche in den dominanten Erzählungen über die DDR seit 1990 nicht wiedergefunden.
SPIEGEL: Inwiefern?
Kowalczuk: Eine Diktatur besteht nicht nur aus einer kleinen Schicht von Herrschenden und einer Gruppe von Widerständlern und Opfern. Wie in allen Gesellschaften gibt es auch dort vor allem eine große gesellschaftliche Mitte, die sich anpasst. Aber diese unterschiedlichen Erfahrungen kamen in der öffentlichen Debatte lange gar nicht vor. Das müssen wir stärker ins Zentrum rücken und daran erinnern, wie unterschiedlich die DDR das Leben der Menschen geprägt hat.
SPIEGEL: Kann man dann überhaupt von einer gemeinsamen ostdeutschen Vergangenheit sprechen?
Kowalczuk: Auf jeden Fall. Die Zeit zwischen 1945 und 1989 ist schon sehr spezifisch, genauso wie die Transformationserfahrungen danach. Und ebenso gibt es Dinge, die nicht spezifisch ostdeutsch sind, den Osten aber bis heute anders prägen als den Westen. Zum Beispiel existieren Antisemitismus und Rassismus traditionell überall in Deutschland. Während in der Bundesrepublik aber öffentlich darüber diskutiert wurde, tat man in der DDR einfach so, als gäbe es das alles nicht. Dadurch entstand im Westen ein anderes Bewusstsein und in der Zivilgesellschaft auch ein größeres Widerstandspotenzial dagegen, ganz anders als im Osten, wo das weithin fehlt. Das zeigt sich bis heute. Ähnlich ist es übrigens mit der Tradition des Illiberalismus und der Staatsgläubigkeit.
SPIEGEL: Im aktuellen Jahresbericht der Bundesregierung zur deutschen Einheit heißt es, dass sich die Lohnniveaus im Osten und Westen immer weiter angleichen und laut einer neuen Umfrage fühlen sich 70 Prozent der Ostdeutschen als Gewinner der Wende. Gleichzeitig sehen sich viele im Osten aber auch als Bürger zweiter Klasse. Wie passt das alles zusammen?
Kowalczuk: Dieses Phänomen gibt es schon lange. Wenn man die Leute fragt, wie es ihnen persönlich geht, sagen sie: gut. Wenn man fragt, wie geht es Ostdeutschland, sagen sie: schlecht. Je mehr die Leute sozial und materiell in der neuen Gesellschaft ankamen, umso mehr fremdelten sie auch mit dem neuen politischen System.
SPIEGEL: Warum ist das so?
Kowalczuk: Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit war im Osten aufgrund seiner Vergangenheit immer ungleich wichtiger als zum Beispiel die nach der Freiheit. Am Anfang sahen die Ostdeutschen viele Schwierigkeiten noch als Begleiterscheinungen der Transformation. Dann stellten sie zum Beispiel im Zuge der Finanzkrise 2008 fest, dass für manche Institutionen Milliarden bereitgestellt wurden. Das empfanden viele im Osten als ungerecht, weil sie den Eindruck hatten, dass ihnen diese finanzielle Hilfe verwehrt worden sei. Probleme wurden nicht mehr als Folge der Transformation und vor allem der verfehlten SED-Politik bis 1989, sondern als Fehler der Politik seit 1990 wahrgenommen. Dieses Gefühl der Benachteiligung wurde lange von der Linkspartei geschürt. Und jetzt profitiert die AfD davon.
SPIEGEL: Beunruhigt es Sie, dass die AfD im Osten so stark abschneidet?
Kowalczuk: Mich beunruhigt der Blick auf die bevorstehenden Wahlen in Thüringen. Wenn die Umfragen für die Landtagswahlen dort zutreffen, könnten Linke und AfD zusammen mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommen. Das würde das Regieren sehr schwer machen. Das ist eine Gefahr für die Demokratie. Demokratien werden nicht weggeputscht, sondern abgewählt. Das droht gerade in Ostdeutschland. Und dagegen müssen wir uns wehren.
SPIEGEL: Wie steht es also heute um die deutsche Einheit?
Kowalczuk: Um die deutsche Einheit steht es besser, als viele heute sagen. Aber schlechter, als wir es alle vor 30 Jahren erwartet hatten.