Die Schwabinger Büroräume von Lin Kayser sind in ihrer Gestalt eine schöne Metapher für scheinbar unvereinbare Erfahrungswerte, den Bruch von branchentypischen Rollenklischees und die schelmenhafte Lässigkeit, die seiner jungen Firma Hyperganic innewohnt.
Die hohen Decken sind von Kronleuchtern und Stuck verziert, im Nebenraum surrt ein filigraner 3D-Drucker in der Größe einer Mikrowelle; neben dem prunkvollen Lumiere Technology Award der International 3D Society liegen Polaroids seiner Mitarbeiter, Prototypen aus weißem Plastik und das alte Mathematikbuch seines Onkels, mit dem sich Lin Kayser im Alter von 10 Jahren die Kunst des Programmierens selbst beizubringen begann.
Als CEO und mehrfaches Board Member, gern geladener Redner in Sachen Entrepreneurship, Nachhaltigkeit, Diversität und Software Development, als Umweltschützer und fünffacher Familienvater scherzt er gerne, dass besser kein Schulabgänger jemals die Eltern mit einem geplanten Lebensentwurf wie dem seinigen erschrecken solle.
Mit einer Melange aus Enthusiasmus, Waghalsigkeit, Empathie und Weitsicht formte er die Vision der Firma Hyperganic, das Produktdesign der Natur zu imitieren: Gemeinsam mit den Mitgründern, dem Chief Technology Officer Michael Gallo und Director of Design Duy-Anh Pham, stellt er sich der Herausforderung, Herstellungsprozesse per se neu zu erfinden, der Kreativität ein neues Gewand zu verleihen und Materialität durchzudeklinieren.
Ein Gespräch über Begeisterungsfähigkeit, die Eigenschaften eines perfekten Teams und das Potential von Mangel.
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Nomad: Lin, weshalb übt die Raumfahrt eine Faszination auf dich aus, und auch Wissenschaft an sich? Wonach bist du auf der Suche?
Nun ja, mit der Raumfahrt bin ich groß geworden. Bei meiner Großmutter hingen statt hübscher Bilder der Enkel Fotos von Raketenstarts an der Wand. Mein Onkel Lutz hat mit seiner OTRAG das erste private Unternehmen für Weltraumraketen gegründet, er war sozusagen der Elon Musk der 1970er. Das All hat auf uns Menschen schon immer eine große Anziehungskraft ausgeübt und für mich ist es nur eine Frage der Zeit, wann wir ernsthaft mit der Besiedelung des Weltraums beginnen. Vielleicht habe ich deshalb auch eine Astrophysikerin geheiratet. Und ich verspreche mir viel von der Raumfahrt, auch insbesondere für uns hier auf der Erde. Ohne die Bilder der “Blue Marble", die unseren Planeten in seiner Schönheit von außen, aber eben auch in seiner Zerbrechlichkeit gezeigt haben, hätte es vielleicht nie eine Umweltbewegung gegeben. Und wir Menschen laufen zu Höchstform auf, wenn wir interessante Zielsetzungen haben. Natürlich bietet der Weltraum auch eine großartige Spielwiese für Additive Fertigung, wo man mit lokalen Materialien Objekte direkt vor Ort drucken kann, anstatt sie mühsam ins All zu schießen.
Nomad: Du bist Mitglied im Freundeskreis des Deutschen Museums, der Bildungsprogramme und Modernisierung fördert. Weshalb hegt jemand, der sich hauptberuflich um die Zukunft der Digitalität kümmert, so großes Interesse für Museen?
Lin: Viele Exponate im Museum sind noch gar nicht so alt. Das zeugt davon, wie schnell sich Wandel vollzieht, obwohl sich manchmal alles wahnsinnig langsam anfühlt. Ich halte es für wichtig, ab und zu einen Referenzpunkt zu haben. Es ist noch nicht so lange her, dass Computer ganze Räume gefüllt haben oder die Menschen keine Autos besaßen. Das Museum zeigt, wie viel sich innerhalb weniger Jahrzehnte verändern kann. Das ist etwas, das wir sehr unterschätzen. Wir denken oft, die Welt sei etwas Statisches, weil sich in unserem Alltag nicht so viel verändert. Wenn man mal überlegt, dass es beispielsweise vor 10 Jahre keine Smartphones gab, ist das heute kaum vorstellbar.
Nomad: Ist es für dich auch spannend zu betrachten, welche Denker und Erfinder ihrer Zeit total voraus waren und wem die Welt erst nachkommen musste?
Lin: Ja, deswegen lese ich sehr gerne Biographien von einflussreichen Unternehmern, um zu sehen, dass deren Probleme den meinigen ganz ähnlich sind. Kritiker und Zweifler sind nichts Neues, wenn große Pläne nicht der Konvention entsprechen. Wenn man als Unternehmer etwas macht, von dem alle sagen, das sei eine supergute Idee, dann ist man vermutlich sowieso zu spät dran. Im Umkehrschluss, wenn alle um dich herum sagen, „Das ist ja vollkommen utopisch!“, dann bist du eher an der richtigen Zahl. Natürlich ist trotzdem alles eine Frage des Timings.
Nomad: Welche Biographie hat dich zuletzt inspiriert?
Lin: Eine Biographie, die ich immer wieder lese, ist die von Richard Branson, der ein absolut verrücktes Leben führt, und bis zu einem gewissen Grad auch verkörpert, dass du dich relativ frei in der Welt des Unternehmertums bewegen kannst. Wie kommst du bitte von einem Musikstudio zu einer Airline!? Ich mag seine authentische, eindrucksvolle Persönlichkeit. Die Biographie von Juan Trippe, dem Gründer von Pan American World Airways fand ich auch beeindruckend, weil sie zeigt, dass man mit den richtigen, langfristigen Zielen trotz vieler Hindernisse etwas Großes aufbauen kann. PanAm kennt mittlerweile keiner mehr, aber es war das größte Flugunternehmen der Welt. Trippe war ein echter Pionier. Als er anfing, haben ihn alle ob der Idee ausgelacht, über den Atlantik oder gar den Pazifik zu fliegen. Ein faszinierender Unternehmer!
Nomad: Wenn du Start Ups und junge Unternehmer betreust, was gibst du als Ratschlag mit? Rätst du dazu, inspirierende Biographien zu lesen und Vorbilder zu haben, oder lieber einen eigenen Weg zu finden?
Lin: Die erste Frage, die ich immer stelle, lautet: „Warum machst du das?“ Darauf bekomme ich leider oft keine gute Antwort. Dabei ist das ja eigentlich die wichtigste Frage überhaupt, denn das Start Up Business ist eine mühevolle Angelegenheit. Ich meine dabei nicht irgendwelche Hipster, die im Coffeeshop in der eine Hand einen Latte halten und mit der anderen ein bisschen auf ihrem Laptop herumtippen. Unternehmertum wirklich ernst zu nehmen, ist eine Lebensaufgabe und harte Arbeit. Das macht man nicht, um reich zu werden. „Warum begeistert dich diese Geschäftsidee?“, ist eine Frage, die für mich im Kern steht. Wenn darauf keine gute Antwort folgt, dann muss man nochmal grundsätzlich ran. Ich möchte Leute ermutigen, Probleme anzugehen, die auch wirklich ernstzunehmend sind. Was mich wütend macht, ist, dass viele Gründer in einem Nullsummenspiel nach Marktanteilen schielen und dann irgendeine neue App entwickeln, die eine inkrementelle Verbesserung schafft. Schön und gut, aber wir haben einen Haufen weltbewegender Probleme, die man durch unternehmerische Leistung lösen könnte. Mir gehen zu wenig Leute an solche Themen heran, so als ob sie nicht existieren würden.
Nomad: Woran liegt das deiner Meinung nach?
Lin: Ganz viel davon hat einfach mit Mut zu tun. „Traue ich mir das zu?“ Das ist natürlich für junge Unternehmer ganz schwierig, weil sie erst einmal herausfinden müssen, was sie können und wer sie sind. Ich versuche, jungen Menschen einen Impuls zu geben, dass sie sich mehr zutrauen, als sie von sich gedacht hätten. Meiner Erfahrung nach ist es so, dass es genau der richtige Zeitpunkt ist, wenn dein Gefühl dir sagt, es sei noch zu früh. Wenn du einen mutigen Schritt tust, blickst du oft zurück, und dann ist es auf einmal ganz normal. Es ist ein wichtiger Aspekt, etwas zu riskieren. Als Unternehmer, der etwas Spannendes macht, musst du eigentlich in der Lage sein, zu ignorieren, was Leute über dich sagen.
Nomad: Auf welche Weise hat sich dein persönlicher Mut über die Jahre und Erfolge hinweg verändert?
Lin: Für meinen ersten Job in einem jungen Unternehmen habe ich mein Studium geschmissen. Das war ein signifikanter Einschnitt, für den ich das richtige Selbstvertrauen hatte, dass ich gut bin ich dem was ich tue. Das mag vielleicht von außen betrachtet mutig scheinen, doch es fühlte sich nicht so an. Das erste Start Up zu gründen, war hingegen mutig, weil damals gerade meine erste Tochter geboren war; meine Frau hatte zwar einen guten Job, aber ich selbst musste bei Null anfangen. Ich kam wie die Jungfrau zum Kinde dazu, für Hollywood zu arbeiten, weil ich zufällig eine Software geschrieben hatte, die Leute von meiner Website herunterluden. Ich erkannte das Business dahinter, das zehn Jahre gut funktionierte. Erst viel später bin ich darauf gekommen, dass ich das gemacht habe, weil es sich anbot. Durch einen absoluten Zufall gab es einen Markt dafür. Ich hatte aber nicht darüber nachgedacht, ob mich das Thema begeistert. Mich hat zwar der Vorgang begeistert, die Filmindustrie zu digitalisieren. Wir haben die ersten digitalen Kinos gebaut, das war eine unglaublich spannende Zeit! Ein großes Privileg, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu leben, um so einen Wandel mitzumachen. Aber ich habe mich nie für Film interessiert. Das hat nie meinem Wertesystem entsprochen.
Nomad: Wie würdest du dein Wertesystem beschreiben, im Hinblick auf eine Dekade in der Filmbranche?
Lin: Ich bin ein großer Fan von Kreativität. Aber die Art von Kreativität in der Filmindustrie ist reiner Selbstzweck. Unsere Software unterstützte eben keine großartigen, bildgewaltigen Dokumentationen, die dein Leben verändern, sondern eher Filme, in denen fiktive Roboter gegen Dinosaurier kämpfen… Mich interessiert Nachhaltigkeit und dass ich einen Einfluss habe auf das Leben anderer Menschen. Dass ich mein eigenes Leben sinnvoll einsetze. Wir waren wirtschaftlich erfolgreich, es hat wahnsinnig viel Spaß gemacht; ich liebe das, wenn sich Dinge dramatisch verändern. Wenn man nicht so richtig sieht, wo es hingeht, sondern es nur erahnen kann. Wenn man keine Sicherheit hat. Das ist eine Umgebung, in der ich aufblühe. Über die Jahre fing es aber an, an mir zu nagen, dass mich die Filmindustrie als solches nie richtig interessiert hat. Es war eine tolle Lebenserfahrung, doch im Rückblick hätte ich mir einen Mentor gewünscht, der mich herausgefordert hätte, zu überlegen, ob ich das wirklich machen möchte.
Nomad: Ist das für dich auch ein Grund, weshalb du vielen Menschen zum Mentor wirst, weil du dir damals jemanden wie dich gewünscht hätte, der alle Ideen hinterfragt, aber gleichzeitig Mut zum Idealismus macht?
Lin: Ja, absolut, denn gerade für junge Menschen ist die eigene Einschätzung schwer. Ich bin im Glauben aufgewachsen, dass es bewohnbare Weltraumstationen gibt und wir ausschließlich von nachhaltiger Energie leben, wenn ich erwachsen bin. Ich frage mich jetzt, wo das alles geblieben ist! Man sieht ja an vielen Beispielen, mit wie vielen leichten Schritten man die Welt ein Stück vorwärts bringen kann. Uns bleibt überhaupt keine Wahl; der Klimawandel schreitet voran und wir haben viel Not in dieser Welt. Als Unternehmer frage ich mich, warum sich das nicht schon längst zum Besseren verändern konnte. Ein goldener Schlüssel ist, dass Jungunternehmer sich das zutrauen, doch wie sollten sie das tun, wenn sie nicht ab und zu jemand von außen ermutigt, beispielsweise die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen anzusehen und sich zu fragen, wie man die nächsten 15 Jahre konkret etwas realisieren kann. Da stecken eine Million Geschäftsideen drin und einige davon sind noch nicht mal kompliziert.
Nomad: Wenn ich deine Firma im Kern richtig verstehe, setzt sich Hyperganic viel mit den Vorgängen in der Natur auseinander, aber auch einer Hinwendung zur Natur und der Gewährleistung ihres Fortbestands. Wie ist es dazu gekommen?
Lin: Hyperganic ist das Resultat eines wirklich langen Denk- und Erfahrungsprozesses. Vor sieben Jahren habe ich mir zum Ausprobieren den ersten 3D-Drucker gekauft. Für mich ist Software immer eines der kreativsten Dinge gewesen, weil du keinerlei Einschränkung hast, was du machst. Daher entsprach der 3D-Druck dieser Uneingeschränktheit in der physischen Welt. Erst fand ich es ganz nett, allerlei Plastikteile zu drucken, doch langsam kam ich darauf, dass diese Technik fundamental die Herstellungsweise aller Dinge verändern könnte. Ich war damals in einer Phase, in der ich mein Start Up an ein großes amerikanisches Unternehmen verkauft hatte und mich in dieser corporate Welt damit beschäftigte, was ich als nächstes machen wollte. Ich habe vieles ausprobiert, eine Stiftung für Umweltschutz gegründet, mich in der Kunstszene engagiert, ein paar Start Up-Ideen inkubiert und mich als Investor betätigt, aber wollte immerzu selber etwas machen. Die Begeisterung für den 3D-Druck begründet sich darin, die Chance zu bekommen, erneut in einer Industrie tätig zu sein, die sich im kompletten Umbruch befindet. Die Art, mit der wir Menschen Dinge herstellen ist unglaublich verschwenderisch und frisst empörend viele Ressourcen. Gleichzeitig ist sie sehr einschränkend, denn man hat nicht genügend Freiraum. Alle Dinge, die wir Menschen hergestellt haben, sind relativ einfach. Aber warum stellen wir uns Zimmerpflanzen ins Büro? Warum genießen wir die Natur so sehr, wenn wir spazieren gehen? Die Natur ist unfassbar komplex und gleichzeitig effizient. Sie verwendet ganz wenig Ressourcen um all diese fantastischen Dinge um uns herum zu erschaffen. Ein Baum ist so viel komplexer als jedes Auto oder jeder Computer! – Der 3D-Druck funktioniert vom Verfahren her ein wenig wie die Natur, die anhand eines Plans Moleküle zusammensetzt. Dieser Plan wird in der DNA gespeichert. Was muss also passieren, damit wir diese Herstellungsweise adaptieren können? Ich bin bei weitem nicht der Einzige, der über diese Technik nachdenkt. Aber es fiel mir auf, dass sich die meisten Unternehmer hauptsächlich über die Hardware Gedanken machen, und nicht über die Software, die ja quasi die DNA des 3D-Drucks ist. Vor drei Jahren haben wir uns mit einem kleinen Team zusammengesetzt, um zu schauen, ob wir hier nicht etwas machen können, was dann dieses Jahr zur Gründung der Hyperganic AG geführt hat. Was mich antreibt, ist auch die Einschränkung in der Kreativität. Die Herstellung hängt aktuell davon ab, wie kompliziert die Anleitung, langwierig der Arbeitsprozess oder teuer die Materialien sind. Gleichzeitig sind wir sehr verschwenderisch mit der Energie und den Materialien. Die Natur schafft mit sehr wenig Materialien viele Dinge mit unterschiedlichen Eigenschaften. Wir Menschen hingegen verfügen über viele Materialien, können aber nur simple Dinge generieren. Beides zusammen ist immens spannend und hätte einen signifikanten Einfluss auf die Produkte, die wir herstellen.
Nomad: Meiner Empfindung nach hast du dein Team ähnlich wie in deiner Beschreibung der Natur zusammengesetzt: relativ wenig Leute mit einer beträchtlichen Anzahl an Fähigkeiten. Was war dein Schlüsselprinzip?
Lin: Mein ganzes Leben habe ich Menschen eingestellt, mit denen ich gemeinsam etwas schaffen wollte. Nicht Human Ressources, die eine Aufgabe erfüllen, sondern Menschen, mit denen ich arbeiten wollte. Wir sind keine gemütliche Clique, denn natürlich hat jeder seine initiale berufliche Aufgabe, aber das Spannende ist, dass die Leute sich dann weiterentwickeln. Ich achte darauf, dass sie vom Thema begeistert sind und sich investieren wollen. Teilweise Menschen, die ich schon jahrelang kenne, an die ich glaube und denen ich viel zutraue. Die kreativ, aber auch wild sind. Das Unternehmertum bedeutet oft Blut, Schweiß und Tränen. Aber wenn man weiß warum man etwas tut, dann bedeutet ein anstrengender Tag nicht Stress, sondern man fühlt sich am Wochenende positiv erschöpft, wie nach einer langen Wanderung. Mir ist es wichtig, dass mein Team aus eigenständigen, verschiedenen Biografien besteht. Durch Diversität passiert ganz viel. Die Hälfte unserer Ingenieure ist weiblich, das ist ein großer Gewinn. Wir sind immer ehrlich zueinander, auch wenn das wie eine Plattitüde klingen mag – in wenigen Unternehmen erlebst du es, dass man offen seine Meinung sagen kann. Wir diskutieren hier im Team teilweise extrem kontrovers, dass die Fetzen fliegen. Aber am Ende siegt dann auch wirklich die richtige Idee, weil alle am selben Strang ziehen und die gemeinsame Vision voranbringen wollen. Ich bin auf mein Team extrem stolz!
Nomad: In welcher Form gibst du deine Begeisterung für unkonventionelles Arbeiten und die Erfahrungen aus deiner Biographie deinen fünf Kindern mit, wenn sie so langsam dabei sind, in die Schule zu kommen, oder gerade ins Berufsleben starten? In welcher Form wünscht du dir klassische Werdegänge? Kann man das als Elternteil in deiner Position irgendwie steuern?
Lin: Ich weiß nicht, ob man das steuern kann. Je mehr Kinder meine Frau und ich bekommen haben, desto mehr habe ich diese Idee abgelegt. Ich denke mittlerweile, dass man nicht besonders viel aktiv erziehen kann. Nach wie vor ist die beste und einzige Art und Weise, dass du das vorlebst, von dem du glaubst, dass es richtig ist. Meine Kinder leben in einer sehr offenen Welt, in der man vieles fragt und diskutiert. Wo wissenschaftliche Prinzipien eine große Rolle spielen, und wo es Sachen gibt, die man glauben kann, oder eben messen und anschauen. Sowohl ich als auch meine Frau sind sehr naturwissenschaftlich geprägt. Wir versuchen ihnen die Möglichkeit zu geben, alle ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Ich finde es selbstverständlich wichtig, dass man gewisse Grundwerte hat und Kinder gut erzogen werden. Dass man auch mal in der Oper sitzen kann, ohne dass sie gleich ADHS bekommen… Ob sie nun ein klassischen Studiengang absolvieren oder nicht, muss mir ja allein schon wegen meiner eigenen Biographie egal sein! Ich bin erfolgreich, habe keinen Studienabschluss; meine Frau ist erfolgreich, hat einen Doktor in Physik. Mein Vater war Maler und Bildhauer, der auf einem alten Bauernhof gemalt hat, mein Onkel wiederum flog mit dem Learjet durch die Welt und hat Raketenunternehmen gegründet. Wir haben das volle Spektrum im Leben und es ist schön, wenn Kinder sehen können, dass Glück nicht an Konventionen gebunden ist. Meine Hoffnung ist, dass meine Kinder glücklich sind, dass sie ein Leben führen, auf das sie stolz sein können, und einen Beitrag leisten in der Menschheit.
Nomad: Wo siehst du diesen Beitrag im Bezug auf Hyperganic? Wieviele oder welche Branchen wollt ihr tangieren?
Lin: Das ist eine spannende Frage: wo fokussierst du, und wo verzettelst du dich vielleicht? Was mich an Software schon immer fasziniert hat, ist die Tatsache, dass sie sehr universell sein kann. Du kannst die Technologie verwenden, um Maschinen- oder Flugzeugteile zu drucken, aber auch lebende Organe. Ich fände es schön, diese Flexibilität zu halten. Viele dieser Themen brauchen eine gewisse Tiefe, um etwas anständig zu auszuführen. Klar kannst du die Firma sehr groß skalieren, läufst dabei jedoch immer Gefahr, dass die enge Gemeinschaft einer strikten Hierarchie geopfert wird. Aber so weit sind wir ohnehin noch nicht. Unser Wunsch ist bis dato, möglichst viele Branchen abzudecken und dabei von unserem Ansatz her so allgemein bleiben zu können, dass wir uns nicht verzetteln.
Nomad: Wo siehst du euren Fokus? Wie würdest du das Manifest eurer Vision beschreiben?
Lin: Die Art, wie wir Dinge herstellen, hat sich in den letzten 2 Millionen Jahre nicht fundamental geändert. Materialien werden bearbeitet und Gegenstände zusammengesetzt. Mit additiver Fertigung hast du die Möglichkeit, Dinge in einem Guss herzustellen. Dafür brauchst du eine Software, die diese Dinge modellieren und darstellen kann. Das ist unsere Rolle. In der Zukunft werden Dinge anders beschrieben werden. Aktuell musst du alles aufmalen, das du anfertigen möchtest. Das ist ein graphischer Prozess. Es gibt eine klare Begrenzung, wieviel Komplexität und Funktionalität du hineinlegen kannst. Deswegen müssen wir zu einem Paradigma wechseln, mit dem Dinge generativ hergestellt werden: Du beschreibst ein Design in relativ abstrakten Vorgaben und dann kommt unsere Software und generiert den Gegenstand so, wie du ihn vorgegeben hast. Dabei brauchst du keine detaillierten Infos, denn das stellen wir so her. Der Vorgang ist immer der gleiche, ob du nun ein künstliches Herz herstellen möchtest, oder ein Raketenbauteil. Die Software von Hyperganic ist die DNA für additive Fertigung und funktioniert im Kern immer gleich.
Nomad: Im August warst du bei der TEDGlobal in Arusha, Tanzania eingeladen. Worum ging es bei deinem Workshop und Talk über die Nachhaltigkeit von 3D-Druck in Afrika?
Lin: Das ist ein enorm spannendes Thema, denn mit die größten Herausforderungen für die Menschheit haben mit Problemen in Entwicklungsländern zu tun, insbesondere in Afrika. Gleichzeitig auch ein gigantisches Potential für Lösungen. Ich denke viele Dinge könnten von afrikanischen Unternehmern besser gelöst werden, wenn sie Zugriff zu einer digitalen Lieferkette hätten, wo Dinge vor Ort additiv gefertigt werden. Damit entsteht eine transformative, digitale Lieferkette und die lokale Anfertigung kann weltweit angewendet werden. In Europa beispielsweise ist der Druck nicht so hoch, ein technisches Problem zu lösen. Das ist ein bisschen wie mit der Solarenergie: Die ist schwer hier zu etablieren, weil wir mit der Steckdose konkurrieren, die sowieso funktioniert. In Entwicklungsländern existiert oft gar keinen Strom. Das heißt, wenn du dort eine Solarzelle hinstellst, hast du auf einmal 100 % Verbesserung. Plötzlich gibt es ein Dorf, das sich selbst versorgen kann und uns hier auf einmal voraus ist, weil wir von riesigen Kraftwerken abhängig sind, die CO2 in die Luft pusten. Es gibt also die Möglichkeit, sogenanntes Leapfrogging zu betreiben. Allgemein gesprochen: Du hast erstmal einen Mangel; aus dem Mangel ergibt sich eine Chance für neue Technologien, und auf einmal erreicht diese Technologie einen enormen Reifegrad, so dass die Menschen in hochentwickelten Ländern sich plötzlich dafür interessieren. Für einen großen Schlüssel in dieser Entwicklung halte ich sogenannte MakerSpaces, also Werkstätten, in denen unter anderem auch 3D-Drucker stehen, so dass Kleinserien oder Prototypen für den lokalen Markt gedruckt werden können. Unternehmer müssen immer nah am Kunden sein, und wer ist näher am afrikanischen Markt, als ein Mensch der im Entwicklungsland selber lebt?
Nomad: Welche Erfahrungen konntest du bislang mit MakerSpaces in Afrika sammeln?
Lin: Vor einiger Zeit habe ich ein Labor für künstliche Intelligenz in Äthiopien besucht. Unter anderem deswegen, weil ich nicht wusste, dass so etwas dort existiert… Dort habe ich ein tolles Team kennengelernt, das beachtliche Software macht. Künstliche Intelligenz ist ja schön und gut, aber richtig spannend wird es dann, wenn man sie mit Robotik verbinden kann. Das Projekt hatten sie dort begonnen, aber, wie ich schon beschrieben habe, unglaubliche Probleme gehabt, bestimmte Bauteile zu bekommen. Die sind einfach nicht vom Fleck gekommen. Zurück in München ging mir nicht aus dem Kopf, dass das ganze Experiment anders gelaufen wäre, wenn sie es in Bayern unternommen hätten. Ich schickte ihnen also versuchsweise einen 3D-Drucker und vergaß es für die nächsten Monate wieder. Als ich mich dann irgendwann zufällig wieder mit dem Projektleiter unterhielt, ob überhaupt etwas aus dem MakerSpace entstanden wäre, rief er aus: „Oh Lin, ich habe völlig verpasst, dir von unserem Erfolg zu erzählen: Wir haben einen Roboter gebaut, der Fußball spielen kann! Wir haben nun mit mehreren Universitäten eine gesamte Liga gegründet, in der die Roboter gegeneinander antreten und ihre Strategien beweisen!“ Dieser eine 3D-Drucker hat also signifikant dazu beigetragen, dass in Äthiopien eine Szene für angewandte Robotik entstanden ist. Das ist eines der Dinge, die mich einerseits verzweifeln lässt, auf der anderen Seite unglaublich hoffnungsvoll macht. In Afrika gibt es ungemein viele Menschen, die großartige Dinge herstellen wollen, und direkt davon abhängig sind, dass ihnen Ressourcen zur Verfügung stehen. Ganz oft haben sie keinerlei Möglichkeiten, da heranzukommen. Dennoch ist das ein Problem, das man relativ leicht fixen kann. Wenn man Kreative identifiziert, dann ist es ein Leichtes, einfach mal einen Maker Space oder ein Zentrum für Unternehmertum einzurichten, oder an eine Uni oder zu einem Start Up zu gehen, um zu sehen, was da passieren könnte. Auf relativ niedrigem Niveau gibt es überall in Afrika Beispiele dafür, dass Bedarf besteht. Wir sind bereits im Gespräch mit mehreren spannenden Leuten, die gerne MakerSpaces mit uns entwickeln möchten.
Nomad: Das ist ein sehr schönes Vorhaben! Denkst du denn grundsätzlich, dass ihr jemals in ethische Konflikte kommen werdet, je nachdem wer eure Technologie verwendet und wofür?
Lin: Freilich kannst du ein Ersatzteil für einen zerbrochenen Flugzeugflügel drucken, oder Pralinen, oder eine bahnbrechende Weise der Meerwasserentsalzung erforschen, aber natürlich auch Waffen herstellen. Das hast du bei jedem technologischen Herstellungsprozess und dafür werden wir Lösungen finden müssen. Momentan ist es nicht besonders leicht, Waffen zu schmuggeln oder herzustellen. Sobald die Lieferkette digital wird, ist es viel einfacher, weil der Drucker ja nicht weiß, was er herstellt. Ein viel größeres Thema jedoch, das uns gesamtgesellschaftlich angeht, ist, dass fast alle dieser Technologien die natürlichen, bestehenden Herstellungsmechanismen verdrängen werden. Ein 3D-Drucker braucht nicht besonders viel Personal. Um die Leute, die heute Gegenstände händisch zusammensetzen, muss man sich früh genug kümmern. Eine Sache, die mich dabei anspornt, ist die Tatsache, dass additive Fertigung unglaublich viel Raum für Kreativität bietet. Ich glaube, das ist ein spannendes Thema für Leute, die momentan in frustrierenden Jobs festhängen, und somit in Bereiche gehen können, in denen sie in der Lage sind, sich selbst zu verwirklichen. Wirklich Einfluss nehmen auf kreative Prozesse. Dinge erschaffen, die nur von der Phantasie abhängen. Viele Technologien konvergieren momentan und es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass Arbeitsplätze in Gefahr sind. Damit muss sich nicht nur die Gesellschaft auseinandersetzen, sondern jeder individuell. Jeder ist individuell sich selbst verpflichtet, neue Dinge zu lernen und Kenntnisse zu entwickeln für die Paradigmen, die sich ergeben. Ich glaube, eines der traurigen Dinge zur Zeit ist, dass ich bei vielen Menschen keine Neugierde mehr sehe, sondern Angst vor der Zukunft. Veränderung ist eine große Chance für uns als neugierige Menschen, aber eine Katastrophe für jeden, der unflexibel ist und in Ruhe gelassen werden will.
Nomad: Das Schöne ist ja, dass ihr vor allen anderen auf die Technologie gekommen seid und sie somit in den Händen von jemandem ist, der sich über solche Vorgänge Gedanken macht und weitsichtig ist, bis in die Arbeitslosigkeit hinein. Doch was passiert mit dem klassischen Handwerk? Werden zutiefst schöne Schaffensprozesse obsolet?
Lin: Ich glaube nicht, dass wir den künstlerischen Teil obsolet machen, sondern möglicherweise einen Teil des Handwerklichen. Das kann aber auch eine zusätzliche Chance für berufliche Entfaltung sein. Letzten Endes ist die Utopie und die Dystopie immer wahnsinnig nahe beinander. Du hast auf der einen Seite eine Welt, in der kein Mensch mehr mühsame Arbeit machen muss, auf der anderen Seite eine Welt, in der kein Mensch mehr weiß, was er eigentlich tun soll. Eine Seite ist die finanzielle Absicherung, die es zu gewährleisten gilt, aber du möchtest ja andererseits auch einen Sinn in deinem Leben haben, der dich mit Stolz erfüllt. Das bringt mich wieder zum Mentoring zurück – ich fordere gerne Unternehmer heraus, umzudenken. Und frage sie, was sie eigentlich machen wollen. Ich denke, es gab niemals zuvor so sehr die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen. Das wiederum schließt den Kreis zum Thema Mut, zu sagen: „Mensch, das probiere ich jetzt einfach mal!“, und auch zum Thema Kinder: Wir sind in einer Welt geboren, in der Wandel die einzige Konstante ist und sich immer schneller vollzieht. Davor kannst du entweder schreiend davonlaufen, doch wenn du Furcht hast, dann machst du Blödsinn. Oder aber sagen: „Ja, das ist spannend!“ Vor allem ist auch die Gesellschaft gefragt, Mechanismen zu schaffen, die Lebensqualität gewährleisten, wenn Wandel geschieht.
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