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Kurdistan, wo der Widerstand zu Hause ist

Man muss kein politischer Mensch sein, nicht einmal besonders belesen oder informiert, um zu verstehen, was Sanandaj im Westen des Irans für eine Stadt ist. Es reicht ins Zentrum zu fahren, an den Hauptplatz, wo der Bildhauer Hadi Ziaoddini seinen Landsleuten 1994 ein Denkmal gemeißelt hat, das selbst die größte Kunstbanausin als Freiheitsstatue eines Volkes im Widerstand begreift: eine sechs Meter hohe weiße Männerfigur, kniend mit zurückgeworfenem Kopf und in die Luft erhobenen Armen, den Brustkorb gen Himmel gerichtet als würde sie Gott persönlich herausfordern. 12 Tonnen pure Subversion, schön und atemberaubend. Im Iran finden sich selten derartige Kunstwerke im öffentlichen Raum, so unverblümt und direkt in ihrer Ekstase und Wehrhaftigkeit. Aber wir sind nicht irgendwo, wir sind in der Hauptstadt von Kurdistan. 

 

Es ist eine von vier Provinzen im Westen des Irans, in denen die knapp 10 Millionen Kurdinnen leben. Sie sind nach Persern und Azeris die drittgrößte Ethnie des 85 Millionen-Einwohnerlandes. Wenn Kurden von Kurdistan sprechen, meinen sie daher nicht nur die Provinz Kurdistan, sondern auch West-Azerbajan, Ilam und Kermanshah.

 

Hier ist Irans Widerstand zu Hause. Und zwar nicht erst seit gestern, sondern seit Jahrzehnten. Bislang wurde das im Rest des Landes distanziert, ängstlich gar feindselig zur Kenntnis genommen. Doch seit dem 16. September 2022 hat sich das geändert. Wo Reserviertheit war, ist heute Dankbarkeit, die Furcht ist der Ehrfurcht, die Feindseligkeit der Anerkennung gewichen. Seit dem gewaltsamen Tod der Kurdin Mahsa Jina Amini im Herbst vergangenen Jahres hat im Iran eine neue Zeitrechnung begonnen. Eine, in der nicht nur alle Schichten aufbegehren und den Sturz der Islamischen Republik fordern, sondern auch zum ersten Mal all die Ethnien, die dieses Regime in seiner Divide-et-impera-Strategie gegeneinander ausgespielt hat, in nie dagewesener Form zu einander finden. Perserinnen, Azeris, Belutschinnen, Araber, Turkmeninnen und Kurden. Auf letztere hat es das Regime in den vergangenen Monaten neben den Belutschinnen im Südosten des Landes am meisten abgesehen. Sie bringen die meisten Opfer in dieser Bewegung, die viele längst als Revolution bezeichnen. Aber der Rest des Landes weiß das. „Kurdistan, Auge und Licht des Irans“ brüllen die Menschen auf den Straßen von Teheran bis Zahedan, wenn der Gewaltexzess der Regimeschergen in den kurdischen Städten wie Sanandaj, Mahabad und Javanrud den nächsten brutalen Höhepunkt erreicht. Sie machen es den Kurdinnen nach, die bei Aminis Begräbnis in ihrer Geburtsstadt Saqqez, als erste zum Protest die Kopftücher in der Luft hin und her schwangen. Sie nehmen sich ein Beispiel an der Organisation und Disziplin ihrer kurdischen Mitbürger, die als Erste flächendeckend für mehrere Tage gestreikt haben. Und sie sehen den anhaltenden Widerstand, den die Kurdinnen leisten, selbst wenn schon Militärkonvois durch die Wohngebiete fahren und die Revolutionsgarden dort ohne Scheu mit scharfer Munition gegen Demonstrierende schießen, während sie in Teheran noch „zurückhaltend“ auf Knüppel setzen.

 

Allen im Iran ist klar: sollte der aktuellen Protestbewegung der Regimesturz eines Tages tatsächlich gelingen, sind die Kurdinnen dafür massgeblich verantwortlich. Sie haben begonnen, als alle anderen noch still waren. Sie haben weitergemacht, als die ersten müde wurden. Und hinter ihrer Parole „Frau, Leben Freiheit“ hat sich ein ganzes Land im Widerstand gegen die Machtelite vereint.

 

Doch warum die Kurden? Ist ihre aktuelle Rolle „nur“ dem Umstand geschuldet, dass die Proteste ausgelöst wurden durch den Tod einer der ihren, die alle nur beim kurdischen Vornamen Jina nennen? Was hat diese Ethnie ohne eigenen Staat, deren Heimat sich nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches im 1. Weltkrieg auf vier Länder – Türkei, Syrien, Iran und Irak – verteilte, das sie prädestiniert, eine feministische Revolution anzuführen?

 

So verdammt viel.

 

Mahabad, der große kurdische Traum

 

Repression macht zäh. Und je aggressiver der Unterdrücker, umso zäher, organisierter und disziplinierter der Unterdrückte. „Wir haben immer Widerstand geleistet, und unser Widerstand hat uns stärker gemacht“, erklärt die in Paris ansässige Soziologin Fatemeh Karimi, Direktorin des Kurdistan Human Rights Network. Die Geschichte einer sunnitischen Kurdin aus Sanandaj sei nun einmal eine ganz andere als jene einer schiitischen Perserin aus Isfahan. Der sunnitischen Kurdin aus der Peripherie des Landes, habe der Staat auf Grund ihrer Volkszugehörigkeit immer Separatismus vorgeworfen und sie dementsprechend verfolgt. Die schiitische Perserin aus dem Zentrum des Irans konnte auf das Wohlwollen des Machtapparats zählen, sei sie doch der Inbegriff der ethnischen und religiösen Identität des Gottesstaates. „Deswegen kann ich auch nicht erwarten, dass die anderen in der heutigen Bewegung die gleiche Rolle spielen wie ich als Kurdin“, erklärt Karimi.

 

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wehrten sich die Kurden gegen die ethnisierte Repression, die mit der Gründung des modernen iranischen Staates 1925 einherging. Reza Pahlavi, der Vater des bei der Revolution 1979 gestürzten Shahs, verfolgte die Vision einer Nation mit zentralisierter Regierung in Teheran und definierte eine persische Leitkultur, an die sich alle assimilieren mussten. Die kurdische Sprache, Traditionen, Trachten und Musik wurden offiziell verboten, jedes Zuwiderhandeln verfolgt.  Die Kurdinnen rebellierten, zuweilen mit Erfolg. Als der Shah auf Grund seiner Nähe zu Hitler-Deutschland 1941 von den Alliierten gezwungen wurde abzudanken und seinem Sohn den Thron zu überlassen, nutzten sie die Schwäche der Zentralregierung.

Am 22. Januar 1946 wurde in der Stadt Mahabad die „Republik Kurdistan“ ausgerufen. 11 Monate lang währte der Traum – mit sowjetischer Schützenhilfe - von einem eigenen kurdischen Staat. Er zerplatzte, nachdem Stalins Truppen aus ihrer Einflusssphäre im Nordiran abgezogen waren und die iranische Armee das Gebiet zurückeroberte. Dennoch: „Mahabad spielt bis heute eine große Rolle in im kollektiven Gedächtnis der Kurden“, erklärt die politische Soziologin Rosa Burc. Sie forscht an der Scuola Normale Superiore in Florenz zu sozialen Bewegungen und Staatenlosigkeit mit dem Schwerpunkt Kurdistan. „In vielen kurdischen Familien gibt es mindestens eine Frau, die Mahabad heißt. Auch viele kurdische Kämpferinnen geben sich diesen Vornamen“, erzählt sie. Dass heute wieder Mahabad im Zentrum der Proteste und der staatlichen Repression stehe, aktiviere in der transregionalen Community einmal mehr dieses kollektive Bewusstsein von Macht und Ohnmacht. Auf Letzteres hat es die Islamische Republik von Anfang an gegen die Kurden angelegt.

 

 

Die ersten Feinde der Islamischen Republik

 

Dabei hatten auch die Kurden im Februar 1979 beherzt an der Revolution teilgenommen. Auch sie, wie so viele Gruppen, wollten das diktatorische Shah-Regime stürzen. Doch sie wurden rasch enttäuscht. Die islamistischen Revolutionäre rund um ihren Anführer Ayatollah Khomeini hatten kein Interesse daran, den kurdischen Forderungen nach Autonomie in diesem neuen Iran entgegenzukommen. Jede Form der Selbstverwaltung sei unislamisch und deswegen inakzeptabel, so die Begründung. Spätestens am 30. März 1979 war das kurdische Schicksal in dem neuen Staat besiegelt. Khomeini liess ein Referendum abhalten, in dem die Iranerinnen mit „Ja“ oder „Nein“ zur „Islamischen Republik“ als zukünftiges Regierungssystem abstimmen sollten. Was unter dieser Islamischen Republik zu verstehen war, konkretisierte er nicht. Ein Grund für die kurdischen Parteien, das Referendum in all ihren Gebieten zu boykottieren. Für Teherans neue Machthaber war das eine klare Kampfansage. Khomeini blies zum Angriff auf die kurdischen Provinzen. Und offenbarte zum ersten Mal den blutigen Charakter der Islamischen Republik. Der Fotograf Jahangir Razmi dokumentierte das in seinem Bild „Firing Squad“ auf der Titelseite der Zeitung Ettelā'āt. Zu sehen sind islamistische Revolutionäre in der Stadt Sanandaj, die 11 Männer mit weißen Augenbinden, aufgestellt in einer Reihe, aus wenigen Zentimetern Entfernung mit langen Gewehren erschießen. Das Bild wurde am 14. April 1980 als erstes und bisher einziges anonymes Bild mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Erst 2006 bekannte sich Razmi zu seinem Werk, dessen Urheberschaft er aus Angst vor Vergeltung davor im Dunkeln liess. Das Foto wird auch dieser Tage oft in den sozialen Medien geteilt, um allen Iranerinnen in Erinnerung zu rufen, wen die Theokratie seit Beginn ihrer Existenz zum Feind erklärt hat.

 

Mit dem Iran-Irakkrieg (1980-1988) sollte die Gewalt noch weiter eskalieren. „Mit der Propaganda, dass die Kurden Separatisten seien, hat das Regime alle Kräfte aus dem ganzen Land gesammelt, um in Kurdistan zu kämpfen“, erzählt Soziologin Fatemeh Karimi. Rollende Panzer, Luftangriffe und Bombardements standen an der Tagesordnung. Geboren und aufgewachsen in Kermanshah, hat Karimi, die seit 2013 in Frankreich lebt, diese Zeit in ihrer Heimat selbst erlebt. All das, was heute in den kurdischen Gebieten passiert, ist für sie wie für so viele andere ein bitteres Deja-vu. Sie erinnert sich auch an all die Horrorgeschichten über die Kurden, die das Regime damals in die Köpfe ihrer Landesleute gepflanzt hat.  Etwa von den blutrünstigen Hinterwäldlern aus den Bergen, die ihre Gegner die Köpfe abschneiden und den Verräterinnen, die mit dem Erzfeind Irak gemeinsame Sache machen.

Letzteres traf zwar zu, aber nur bedingt. Im achtjährigen Krieg unterstützten Iran und Irak die oppositionellen Kräfte des Gegners. In Kurdistan führte das zu der skurrilen Situation, dass Bagdad, das sich im Krieg mit den eigenen Kurden befand, jene im Iran unterstützte und Teheran das gleiche mit entgegensetzten Vorzeichen im Irak tat. Das half Irans Machthabern, auch nach dem Krieg das Narrativ der antipatriotischen Kurden zu nähren, die mit ihren Brüdern jenseits der iranisch-irakischen Grenze konspirieren, um ein unabhängiges Kurdistans zu schaffen. Nicht umsonst rechtfertigt das Regime die aktuelle Brutalität in den kurdischen Gebieten mit dem „Separatismus“. Dabei versichern kurdische Parteien seit Jahren, dass sie ein unabhängiges Kurdistan gar nicht anstreben. Heute scheinen ihnen das ihre nicht-kurdischen Landsleute zum ersten Mal zu glauben: „Zum ersten Mal stellt sich die iranische Gesellschaft hinter die Kurden“, sagt Karimi. Und noch viel mehr: Sie brüllt an ihrer Seite ihre Parole in ihrer Sprache: Jin, Jiyan Azadi. Frau, Leben, Freiheit.

 

 „Die Kurden meinen es ernst mit Feminismus“

 

„Es wird gerne ausradiert, weil es unangenehm ist, aber der Spruch hat seinen Ursprung in der Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK“, erklärt Forscherin Rosa Burc. Die PKK, eine sozialistische Untergrundorganisation, die auf der Terrorliste der EU und USA steht, als Urheberin des zentralen Slogans einer feministischen Bewegung im Iran? Burc nickt.

 

1978 von Abdullah Öcalan und anderen Aktivisten als Unabhängigkeitsbewegung ins Leben gerufen, wollte die PKK anfangs durch einen Guerillakrieg in der Türkei eine Revolution erreichen, um anschließend einen eigenen kurdischen Staat zu gründen. In den 1990ern fand ein Paradigmenwechsel, erzählt Burc. Öcalan trat damals im Anzug und Krawatte, zum ersten Mal in Zivil, vor die Kameras, sagte sich los vom Ziel der Unabhängigkeit. Er sprach vom Aufbau einer Republik, in der die Kurden ihre eigene Autonomie hätten ohne sich abzuspalten. Aus dieser Zeit stamme auch die Parole „Jin, Jiyan Azadi“, die einem internen Reflexionsprozess der Partei um Freiheit, und Fremdherrschaft geschuldet war. „Öcalan hat den kolonialen Kampf nicht nur als Befreiungskampf der Nationen gesehen, sondern auch von Gesellschaften. Sie könnten nur dann dekolonial sein, wenn sie die erste Kolonie der Menschheit, die Frau, befreien“, erklärt Burc. „Und das können sie nur schaffen, wenn die Frauen selbst den Widerstand leisten und gestalten, und wenn gesellschaftlich die ‘dominante Männlichkeit‘ getötet wird.“ Öcalan habe damals wörtlich gesagt: „Wir Männer müssen auch Feministen werden, wir müssen verstehen, dass Frauen das erste kolonialisierte Volk sind.“

 

Allein ist Öcalan aber nicht zu dieser Erkenntnis gekommen. Es waren die Frauen in der PKK, die ihn darauf brachten. Burc, selbst Kurdin aus der Türkei, hat für ihre Forschung mit älteren Guerillakämpferinnen gesprochen, die davon erzählten, wie sie sich ihren Platz in der Bewegung als gleichberechtige Partnerinnen erkämpften. Wie sie dafür sorgten eine eigene Brigade in der Untergrundorganisation zu bekommen, und nicht nur verdonnert zu werden für häusliche Versorgungsarbeiten der männlichen Mitglieder. Der feministische Diskurs, der Anfang der 90er begonnen hat, trug 2005 erste Früchte. Die Bewegung begann sich anders zu organisieren, die „Jinealogie“, der kurdische Feminismus, wurde nicht nur Teil der offiziellen Ideologie sondern gelebte Realität, sowohl in der Türkei als auch in Syrien. So gilt etwa in von kurdischen Gruppen kontrollierten Gebieten eine penibelst eingehaltene Frauenquote. Vom Bürgermeister bis zur Schuldirektorin ist jeder Posten doppelt besetzt. Ebenso wird Jinealogie an Frauenakademien, Gemeinschaftszentren und sogar Gymnasien als eigenes Fach gelehrt. „Die Kurden meinen es sehr ernst mit dem Feminismus“, sagt Burc. „Das ist keine Floskel“.

 

Im Westen hat man das kaum begriffen. Da wird der kurdische Feminismus zumeist exotisiert. Zuletzt 2014, als Frauen in Rojava, jenem kurdischen Landstrich in Nordsyrien, gegen die Terrormiliz IS gekämpft haben. Die mutige Peshermga-Frau mit Waffe in der Hand und wehendem Haar, die sich einer islamistischen Mörderbande in den Weg stellt, hat die Herzen in unseren Breitengraden höherschlagen lassen. Frauen aus dem Nahen Osten, die nicht wie unterjochte zwangsverschleierte Geisterwesen daherkommen, sondern Terroristen bekämpfen, zumal es deren größte Angst ist, von einer Frau getötet zu werden (weil ihnen dann der Weg ins Paradies versperrt wird): Was gibt es Erhebenderes? Aus dem Stoff sind TED-Talks! Nicht umsonst widmeten Frauenzeitschriften den mutigen Kurdinnen Bilderstrecke mit strengem Blick und geschulterten Bazookas. Die schwedische Modekette H&M hat sich gar für einen khakifarbenen Jumpsuit in Peshmerga-Optik inspirieren lassen - was der Konzern zwar abstritt, aber wofür er sich dennoch entschuldigte.

 

Kein bewaffneter Konflikt

 

Unter den Kurden in der Region entfaltete der Kampf gegen den IS eine ganz andere Kraft. Zum ersten Mal brüllten sie damals auf Irans Straßen die Parole „Jin, Jiyan, Azadi.“ Aus Solidarität – und aus Eigenermächtigung. „Das ist die transnationale Dimension, die die kurdische Bewegung in verschiedenen Teilen der Region neu entfacht und antreibt“, erklärt der Politologe Kamran Matin von der britischen Sussex University. Der kurdische Horizont ging immer über nationale Grenzen hinaus. „Kurden sind vielleicht im Iran unterdrückt, in Nordsyrien haben sie aber defacto ihren eigenen Staat“, führt Matin aus. Die Tatsache, dass es wo anders für sie klappen könnten, motiviert und bestärkt. Der Kampf der Kurdinnen gegen den IS in Syrien oder das Unabhängigskeitsreferendum im Irak 2017, all das zeugt von Bewegung, und hebt die Moral auch dort, wo es in der kurdischen Frage stiller ist.

 

Im Iran war man in diesen Jahren enttäuscht über die eigene Passivität, erinnert sich Matin, selbst iranischer Kurde. Die Führung der kurdischen Parteien, die seit den 1980ern aus dem Nordirak operierte, hatte politische und militärische Aktivitäten im Iran gedrosselt bis ganz eingestellt. 2016 kam es jedoch zu einer Art Wiederauferstehung: „Rasan“(Aufstand) nannte sich die gestartete Kampagne. Peshmerga-Kämpfer wurden in den Iran geschickt, um die Leute aktiv zu rekrutieren und den Spirit als Befreiungsbewegung hochzuhalten. In dieser Zeit kam es oft zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Streitkräften des iranischen Regimes und kurdischen Kämpfern, denen von der Parteispitze die Erlaubnis zur Selbstverteidigung gegeben worden war. Doch haben sie je von sich aus angegriffen? „Niemals“, sagt Matin, „sie haben nie den Konflikt gestartet.“

 

Eine Order, die bis heute gilt. In den vergangenen Monaten stand immer wieder die Frage im Raum, ob sich die Kurdinnen gegen die Brutalität des Regimes demnächst auch bewaffnet zur Wehr setzen würden. Eine düstere Vorstellung, würde doch das Schreckensszenario Wirklichkeit werden, dass die Islamische Republik schon immer heraufbeschworen hat: ein Bürgerkrieg entlang ethnischer und religiöser Konfliktlinien. Provoziert genug wären die Kurden. Denn der Gewaltexzess der Islamischen Republik in den kurdischen Gebieten macht nicht an den iranischen Landesgrenzen halt. Seit Anfang der Proteste werden auch iranisch-kurdische Stellungen im Nordirak angegriffen. Es ist eine Zerreißprobe für die kurdischen Parteien, deren Exil schließlich vom Wohlwollen Bagdads abhängt, das kein Interesse an militärischen Auseinandersetzungen in seinem Hoheitsgebiet hat – geschweige denn an einem Krieg mit dem Nachbarland. Dass der lange Arm des Mullah-Regimes bis ins Ausland reicht, wissen die Kurden nur zu gut. 1989 haben iranische Agenten den Parteivorsitzenden der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran Abdul Rahman Ghassemlou in Wien ermordet, drei Jahre später in Berlin im griechischen Lokal „Mykonos“ drei seiner Parteikollegen. Das Ausschalten der politischen Elite Kurdistans hat eine lange Tradition.

Dennoch: Bislang gab es keine bewaffnete Antwort auf die aktuellen Aggressionen. „Einzelne Akte des bewaffneten Widerstands könnten vorkommen, aber es wird nichts im großen Stil sein“, prophezeit Matin. Auch die Soziologin Fatemeh Karimi winkt ab: „Das wäre Selbstmord für die Kurden.“  Einer bis auf die Zähne bewaffneten Islamischen Republik wären sie niemals gewachsen. Das weiß jede in Kurdistan.

 

Alte Stereotype im Exil

 

Niemand hat Interesse an einem noch größeren Blutbad. Schon jetzt führen die Kurdinnen nach den Belutschen die Todesstatistik der aktuellen Protestbewegung an. Werden sich ihre Landsleute daran erinnern, wenn es eines Tages tatsächlich zum Sturz der Islamischen Republik kommen sollte? All die Opfer, die sie gebracht haben? Kamran Matin ist skeptisch. In den vergangenen Monaten kam es zu Annäherungen zwischen den oppositionellen Kräften im Ausland. Den kurdischen Parteien wurde dabei eine zentrale Rolle aber nicht zugestanden, obgleich sie gemäss Matin die einzige politische Gruppe sind, die über die nötige Organisation und Mobilisierungskraft im Iran verfügt. Mehr noch: Auch unter den Regime-Gegnerinnen im Exil hätten einige Schwierigkeiten, sich von der Auffassung, die Kurden – und andere Ethnien – seien Separatisten, die die territoriale Integrität Irans gefährden würden, zu verabschieden. Das schürt Misstrauen. „Ich denke nicht, dass Kurden mit irgendeiner Gruppierung zusammenarbeiten sollten, die ihr Recht auf Selbstverwaltung nicht anerkennt“, warnt Matin. „Ansonsten sterben wir für jemand anderen, der uns am Ende dasselbe antut wie die Islamische Republik.“

 

Nach so langer Zeit kennt der Unterdrückte den Unterdrücker. Egal, in welchem Gewand er sich präsentiert.

 

 

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