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Medizinstudium: Tabuthema Abtreibung

Nicht für alle Frauen ist ein positiver Schwangerschaftstest eine gute Nachricht.

Obwohl Schwangerschaftsabbrüche gesellschaftlich relevant sind, lernen Medizinstudierende erstaunlich wenig über sie, kritisieren manche Ärzte. Muss die Ausbildung sich ändern?

Nicht alle Babys sind Wunschkinder. Etwa jede dritte Schwangerschaft entsteht ungeplant, schätzt die Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung, "pro familia". Fast 18 Prozent der ungeplanten Schwangerschaften sind sogar "explizit ungewollt". 57 Prozent dieser Frauen bekommen das Baby trotzdem. Die anderen entscheiden sich für einen Schwangerschaftsabbruch.

Laut Angaben des Statistischen Bundesamts nahmen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland 2021 rund 94 600 Schwangerschaftsabbrüche vor - vier Prozent davon aus medizinischer Notwendigkeit, weil sonst das Leben der Mutter in Gefahr gewesen wäre, und 96 Prozent auf Wunsch der Frau. Zum Vergleich: Die Entfernung der Gallenblase, eine der häufigsten Operationen, findet jährlich rund 175 000-mal statt. Mit statistisch 259 Eingriffen am Tag ist der Schwangerschaftsabbruch medizinisch also durchaus relevant: Er zählt zu den häufigsten gynäkologischen Eingriffen. Im Medizinstudium spielt er allerdings keine allzu große Rolle.

"Das Thema wird an vielen Universitäten kaum gelehrt oder kommt nur in den Fächern Medizinethik oder Medizinrecht vor", sagt etwa Alicia Baier. Die Ärztin in Weiterbildung ist Mitbegründerin und Vorsitzende des Vereins "Doctors for Choice Germany", der sich für einen selbstbestimmten Umgang mit Sexualität, Fortpflanzung und Familienplanung einsetzt. "Im Studium geht es nur selten um die Methoden des Schwangerschaftsabbruchs und die wertfreie Beratung einer ungewollt Schwangeren. Unser Eindruck ist, dass das Thema immer noch ein Tabu ist."

Zwar hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die Hochschulen um Auskunft gebeten und ist zu dem Schluss gekommen, "dass alle medizinischen Fakultäten das Thema Schwangerschaftsabbruch im Pflichtcurriculum behandeln" und "Ärztinnen und Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, bereits die erforderlichen Kompetenzen vermittelt werden". Baier aber glaubt das nicht: "Die Studierenden sagen etwas anderes." Ihr Verein kritisiert außerdem, dass Abtreibungen nach wie vor kein Pflichtbestandteil der Facharzt-Weiterbildung sind.

Das liegt daran, dass angehende Gynäkologinnen und Gynäkologen nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz von ihrem Verweigerungsrecht Gebrauch machen dürfen: Lehnen sie Schwangerschaftsabbrüche aus ethischen Gründen persönlich ab, müssen sie auch nicht lernen, wie sie gemacht werden. "Man kann also Frauenärztin werden, ohne je auch nur bei einem Abbruch dabei gewesen zu sein", erklärt Baier. In Ländern wie Schweden sei das undenkbar, "da muss jeder den Abbruch lernen, der das Fach Gynäkologie wählt".

Die wichtigsten Methoden fehlen in der Ausbildung

Dass Ärzte und Ärztinnen später selbst entscheiden dürfen, ob sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen oder nicht, findet Baier richtig - wenn sie fachlich einen anderen Schwerpunkt wählen. Zudem sind Abtreibungen bis heute per Gesetz verboten und nur unter bestimmten Bedingungen straffrei. "Dass Ärzte es aber nie gelernt haben müssen, kann doch nicht sein. Schließlich müssen wir es auch im Notfall können, und was so viele Menschen betrifft, sollte uns doch ein Begriff sein." In der Muster-Weiterbildungsordnung fehle mit der Absaugung zudem die Methode der Wahl, beklagen die "Doctors for Choice", ebenso sei der medikamentöse Abbruch bis zur neunten Woche nicht erwähnt. In vielen Lehrkrankenhäusern würden ohnehin keine Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. "Vor allem den medikamentösen Abbruch können angehende Gynäkologinnen und Gynäkologen nur lernen, wenn sie sich selbst um Fortbildungen bemühen", berichtet Baier.

Baier selbst hat das Durchführen von Schwangerschaftsabbrüchen in den Niederlanden und bei Kristina Hänel gelernt, jener Allgemeinmedizinerin, die verurteilt wurde, weil sie "Werbung" für Schwangerschaftsabbrüche gemacht hatte. Erst in diesem Sommer hat der Bundesrat beschlossen, den umstrittenen Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs aufzuheben - damit ungewollt schwangere Frauen sich besser zu dem Thema informieren und einfacher eine Arztpraxis oder Klinik finden können.

Nicht alle finden die Ausbildung von Gynäkologen lückenhaft

Matthias Beckmann kann die ganze Aufregung um vermeintliche Lücken im Medizinstudium nicht verstehen. Der Direktor der Frauenklinik am Universitätsklinikum Erlangen ist Mitglied der so genannten Lernzielkatalogkommission und sagt: "Es gibt keinen Bedarf, den Lehrplan zu ändern. Die Vorwürfe, dass manche Methoden im Gegenstandskatalog fehlten, sind sachlich nicht nachvollziehbar." Zwar könnte man bemängeln, dass Prüfungsfragen zu Schwangerschaftsabbrüchen in den Staatsexamina kaum vorkämen. "Doch wir haben kein Versorgungsproblem, was Informationen zu Techniken angeht. Das Ganze wird hochgekocht und viel zu sehr emotionalisiert."

Als Leitlinienbeauftragter der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) hat Beckmann bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) die neue S2k-Leitlinie zum "Sicheren Schwangerschaftsabbruch" angemeldet, die im April 2023 erscheinen soll. Das BMG und die DGGG haben ihre Entwicklung vereinbart, bisher gab es den Leitfaden für Ärzte für diesen Eingriff nicht. Laut Beckmann ist Erstaunen darüber, dass es bisher keine Abtreibungs-Leitlinie gab, unangebracht: "Um einen Eingriff vorzunehmen, benötigen Ärzte keine eigene Leitlinie. Sie definiert lediglich einen Handlungskorridor, war ein politischer Wunsch und das Ganze ist ein politisches Thema. Für unsere tägliche Arbeit ist diese Leitlinie nicht zentral, sondern sie dient der Versicherung, dass alle Informationen präsent werden."

Inhalte werden an anderer Stelle "mitgelehrt"

Die Kritik der "Doctors for Choice", dass Schwangerschaftsabbrüche im Medizinstudium unterrepräsentiert seien, ist laut Beckmann fehl am Platz: "Ob Fehlgeburt oder Abtreibung, die Ausschabungstechnik ist dieselbe. Wir verwenden die gleichen Medikamente, machen die gleiche Art der Narkose und nutzen die gleichen Techniken. Es ist nicht so, dass wir das Thema nicht lehren. Wir lehren es mit anderen Themenbereichen zusammen." Wenn es um den Wirkstoff in der Pille danach gehe zum Beispiel, um die Einleitung einer Geburt oder den Umgang mit Fehlgeburten. "An mehreren Stellen der Ausbildung werden die Prinzipien klar und deutlich dargestellt", sagt Beckmann. "Detaillierte OP-Techniken haben dagegen im Studienplan nichts zu suchen. Die lehren wir in keinem Fachgebiet, sondern immer erst in der Facharztausbildung."

Die nach seinen Angaben wenigen Studierenden, die sich bei Beckmann über die vermeintliche Lücke im Lehrplan beschweren, lädt der Professor zu einem Seminar ein, das er seit einiger Zeit anbietet. "Darin gehe ich mit den Studierenden gern in die Diskussion. Aber ein so emotional aufgeladenes Thema diskutiere ich nicht bei einer Vorlesung mit mehr als 130 Leuten im Hörsaal."

Den wertfreien und respektvollen Umgang mit ungewollt Schwangeren üben

Alicia Baier wird wütend, wenn sie hört, dass Schwangerschaftsabbrüche bei den anderen Themen in den Lehrkrankenhäusern "mitgelehrt" würden: "Das ist das häufigste Gegenargument. Es mag zwar beim Thema Fehlgeburten um die chirurgische Behandlung gehen. Aber dabei wird oft noch ausgeschabt und nicht abgesaugt. Die Ausschabung, die immer noch bei vielen Abbrüchen zum Einsatz kommt, ist jedoch eine veraltete Technik mit vielen Risiken. Manche Kliniken haben nicht mal die Geräte dafür."

Ohnehin geht es der Ärztin und ihrem Verein nicht nur um die Technik. Der Eindruck, dass das Thema Abtreibungen umgangen werde, weil es so umstritten ist, stört sie: "Abbrüche sollten einfach ein selbstverständlicher Teil unseres Fachs werden, wie andere Themen auch. Genauso wie das Wissen um die Methoden sollten Studierende außerdem einen wertfreien und respektvollen Umgang mit ungewollt Schwangeren vor, während und nach dem Eingriff lernen." Das BMG bestätigt nach Auswertung der erwähnten Hochschul-Umfrage: "Beratungsgespräche werden eher weniger geübt."

Nur ein Teil der Kliniken führt Abtreibungen durch

Spätestens im Klinikalltag wäre das angebracht, allerdings fehlt vielen die Gelegenheit, von Vorgesetzten zu lernen: Laut dem Recherchezentrum "Correctiv" führen nur 60 Prozent der Kliniken mit gynäkologischer Fachabteilung Abtreibungen durch. Abbrüche nach der so genannten Beratungsregel, die die allermeisten Fälle ausmachen, bieten gerade mal 38 Prozent an.

Weil Ärztinnen und Ärzte, die den Schwangerschaftsabbruch lernen wollen, laut Baier "kaum Fortbildungsmöglichkeiten" haben, organisieren die "Doctors for Choice" eigene Kurse. "Das Unwissen und das Interesse sind groß", sagt sie. Es gibt vier Onlinefortbildungen zum Durchklicken, vor allem zur Abtreibung mit Medikamenten. Ein Lernmodul erklärt die Wirkstoffe und deren Anwendung, ein anderes die praktische Umsetzung und den Umgang mit Komplikationen, ein drittes stellt Fallberichte vor. Neu ist seit Kurzem ein Kurs zum operativen Abbruch im ersten Drittel der Schwangerschaft.

Und dann wären da noch die praktischen Schulungen mit den Papayas. Weil die Tropenfrüchte in Form, Größe und Textur einer Gebärmutter ähneln, sind sie zum Üben von Abtreibungen seit Jahren wissenschaftlich anerkannt. "Die Idee stammt von den ›Medical Students for Choice USA‹", berichtet Baier, die Papaya-Workshops für Studierende in Berlin seit 2015 mitorganisiert. "Natürlich ist eine Papaya keine Gebärmutter. Aber sie ist das beste Modell, das wir haben." Es gehe in den Kursen ohnehin nicht darum, die Absaugmethode mit Obstkernen zu perfektionieren. "Vielmehr sollen sie eine erste Annäherung an das Thema ermöglichen und Berührungsängste abbauen", so die Ärztin.

Ginge es nach Baier, sollte in Zukunft schon die Theorie im Studium Berührungsängste abbauen. "Doch der Gegenstandskatalog für die Ausbildung ist nicht bindend und jede Uni regelt das anders. Es muss also politisch Druck gemacht werden." Viel Hoffnung setzen die "Doctors for Choice" in die Ampel-Koalition: "Damit sind die Chancen gestiegen, dass sich etwas ändert, denn die CDU hat vorher viel blockiert." Bundesfamilienministerin Lisa Paus zumindest hat gegenüber dem "Tagesspiegel" bereits angekündigt, dass sie die ärztliche Ausbildung anpassen und das Thema Abtreibungen in Zukunft stärker im Lehrplan gewichten möchte.

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