Dieser Artikel stammt aus unserem Ressort X. Alle Texte und Schwerpunkte des Ressorts finden Sie hier.
Herr Karimi greift nach etwas, das aussieht wie ein Korsett. Er schnallt es sich um das rechte Bein, zieht die Klettverschlüsse straff. Das Gleiche macht er mit dem linken Bein, dem linken Arm und dem rechten. Er öffnet und schließt seine Hand, und auch der Roboter neben ihm im Wohnzimmer öffnet und schließt die Hand. "Die habe ich aus alten Gillette-Rasierern gebaut", sagt er und deutet auf die Finger des Roboters.
Etwa ein Jahr lang war Herr Karimi damit beschäftigt, diesen Roboter zu bauen, größtenteils aus Gegenständen, die er auf den Straßen fand und im Müll. Alte Drucker, Rollkoffer, Computertower, Plastikflaschen, Wasserrohre. Als seine elfjährige Tochter den Roboter zum ersten Mal fertig sah, sagte sie: "Aber es muss ein Mädchen sein! Ich habe ja keine Schwester." Herr Karimi sagte: "Ja, so ist es." Und nannte den Roboter Athena. Wie die Schutzgöttin der Stadt Athen und die Göttin der Weisheit, der Strategie, des Kampfes, der Handarbeit und des Handwerks.
Saidullah Karimi ist aus Afghanistan geflüchtet. Gemeinsam mit seiner Frau Shaista und seinen vier Kindern, drei Jungen, ein Mädchen, der Älteste heute 23 Jahre alt, die Jüngste elf, schaffte er es nach Griechenland und landete schließlich in Athen. Seit fünf Jahren lebt die hier und seit fünf Jahren ist Herr Karimi ein Orthopäde ohne Fälle.
Die Geschichte von Herrn Karimi ist eine Geschichte der Möglichkeiten. Sie erzählt von großem Erfindungsreichtum, vom langen Warten und anhaltender Hoffnung. Aber vor allem erzählt sie davon, was Geflüchtete zu ihrer neuen Gesellschaft eigentlich beitragen können, wenn man sie lässt.
Die Wohnung der Familie liegt nicht weit vom Viktoria Platz entfernt, einem kleinen Park im Zentrum der Stadt. Einst wohnten in dem Viertel die Intellektuellen Athens, dann zog weg, wer konnte und 2015 kamen die Geflüchteten und machten den Park zu ihrem Marktplatz und Treffpunkt. Wenn die Nacht hereinbricht, versammeln sich hier immer mehr Menschen. Manche suchen nach Angehörigen oder Freunden aus ihren Heimatländern, andere sind Geflüchtete, die nirgendwo anders hingehen können. Matratzen- und Deckenlager in Häuserecken. Mütter und Väter mit Neugeborenen, Kinder, Schwangere, Ältere. Fast alle sind mittellos. Auch Menschen mit psychischen oder physischen Problemen. Die sieht man häufiger auf den Straßen Athens: ein fehlender Arm, ein fehlendes Bein.
Zumindest denen mit den physischen Problemen könnte Herr Karimi helfen. Immer wieder hat er versucht, Arbeit zu finden. "Googeln Sie mal Otto Bock", sagt er. Einer der größten Hersteller für Prothesen, Orthesen oder Rollstühle. Ein deutsches Unternehmen, eigentlich mit Niederlassungen weltweit. "Gibt es hier weit und breit nicht." Er hat es bei den wenigen orthopädischen Werkstätten, die es hier gibt, schon versucht. In einer durfte er für einen Monat arbeiten. Danach hat ihn der Besitzer weggeschickt, er könne ihn nicht weiter beschäftigen, es gebe kein Geld. Ein anderer wies ihn ab: Herr Karimi habe sicher nicht die orthopädischen Fähigkeiten, die es brauche.
Um sich beschäftigt zu halten, fing er schließlich an, den Roboter zu bauen. Athena ist 120 Zentimeter groß, etwa so groß wie ein siebenjähriges Kind. Sie kann den Kopf drehen, mit den Augen blinken und die menschlichen Bewegungen verfolgen. Ihr Vorderkopf ist aus Wasserrohren gefertigt und die Augen aus Spiegelglas von Sonnenbrillen, dahinter LED-Leuchten. Ihr Gesicht sieht ein kleines bisschen aus wie das von Disneys Wall-E.
Herr Karimis emanzipatorischer Akt hat ihm nun die Presse mitten ins Wohnzimmer geholt. Die New York Times ist extra angereist und das Fernsehen war da, der Sender Sky oder das griechische Staatsfernsehen ERT. Jetzt sehen die Athener und alle anderen Griechinnen und Griechen Herrn Karimi, seine Couch und Athena, die Roboterfrau, auf den Bildschirmen im ganzen Land. Tromero! Hammer!, sagt der Reporter vor laufender Kamera.
Und Herr Karimi erzählt auf Griechisch von Drehpunkten und Schwerkraft und was er für Flexion und Extension benutzt hat oder wie man Extension so limitiert, dass die Roboterarme nicht überdrehen. Herr Karimis Griechischlehrerin hat einen Fernsehbeitrag auf Facebook geteilt: "Herzlichen Glückwunsch mein lieber Schüler!!! Gut gemacht!!! Du schenkst uns allen viel Lächeln!!!" Und jemand kommentiert: "Wunderbare Familie, trotz der Widrigkeiten, die sie durchgemacht haben, gedeihen all ihre Mitglieder weiterhin! Herzlichen Glückwunsch!"
Gerade als Herr Karimi die Funktionsweise von Athena erklärt, klingelt das Telefon. Ein Freund aus Afghanistan ruft an, trotz der Tumulte im Land will er seine Freude mitteilen. "Die denken jetzt ich bin berühmt und reich", sagt Herr Karimi. Und wendet sich wieder Athena zu. Durchsichtige Plastikflaschen schützen ihre Technik und zeigen gleichzeitig, woraus sie besteht: aus mechanischen, elektronischen und mikroelektronischen Bauelementen, wie ihr Schöpfer erklärt. Und sie hat sensorische Fähigkeiten. Einmal schlich er nachts im Dunkeln auf Toilette, hörte ein Zzzzz und plötzlich starrt ihn Athena mit ihren LED-Augen an.