ZEIT Spezial: Herr Klitschko, Frau Kiel, Sie beraten mit Ihrem Team Unternehmen, etwa die Deutsche Telekom oder den Softwareentwickler SAP, mit einer Methode, die Sie F.A.C.E nennen. Nach welchen Antworten suchen die Firmen bei Ihnen?
Wladimir Klitschko44, startete mit 14 Jahren seine Boxkarriere, war mehrfacher Schwergewichtsweltmeister und promovierte in Sportwissenschaften. Heute unterrichtet er an der Universität St. Gallen den Weiterbildungsstudiengang CAS Change & Innovation Management. Außerdem bietet er Trainings in Change- und Challenge-Management für Führungskräfte an.
Wladimir Klitschko: Beides sind innovative Unternehmen. Aber neben den Innovationen werden allzu oft die Innovatoren, also die Menschen hinter den neuen Produkten, vergessen. Die durchleben natürlich neue Herausforderungen, für die sie auch Methoden brauchen, um mit ihnen umgehen zu können.
ZEIT Spezial: Sie nennen sich Challenge-Meister?
Tatjana Kiel: Als Wladimir noch aktiver Boxer war, ist mir aufgefallen, dass die Leute immer wieder dieselben Fragen stellten: Wie schaffst du es, so fokussiert zu sein? Wie schaffst du es, am Samstag um 23.08 Uhr in den Ring zu steigen und die beste Performance abzuliefern? Wie schaffst du es dranzubleiben, wenn du eine derbe Niederlage erlitten hast? Ich habe dann angefangen, seine Antworten aufzuschreiben, wir haben sie gemeinsam gebündelt und systematisiert. Daraus ist F.A.C.E entstanden. Die Buchstaben stehen für Focus, Agility, Coordination und Endurance.
Klitschko: Für mich war der Aha-Moment, als mein langjähriger Trainer und Mentor Emanuel Sterward plötzlich verstarb. Ein Anruf von seiner Frau, und ich habe ihn nie wieder gesehen. Er hat sein Wissen nirgendwo hinterlassen können. Er hatte so viel Erfahrung. Ich habe so viel von ihm gelernt. Ich wollte mein Wissen irgendwo festhalten.
ZEIT Spezial: Eine häufiges Wort in Ihrem Buch ist "neutralisieren" - man solle Nörgler, Runterzieher und Schwarzmaler neutralisieren. Wie machen Sie das?
Klitschko: Ich behandele sie wie Lärm.
ZEIT Spezial: Wie muss ich mir das vorstellen?
Klitschko: Ich blende sie aus. Ich musste zum Beispiel mal meinen eigenen Bruder neutralisieren. Eigentlich ist er mein Vorbild und mein Weggefährte und kein Gegner. Er ist der Grund, warum ich in jungen Jahren zum Boxen gekommen bin. Aber nach zwei herben Niederlagen in den Jahren 2003 und 2004 hat er mir geraten, mit dem Sport aufzuhören. Nach einem Streit habe ich ihm dann Hausverbot erteilt. Er durfte nicht zu mir ins Trainingslager kommen. Ich habe gesunde Distanz zu ihm aufgebaut. Und ich habe die Regeln bestimmt. Ich nenne das: Spiel von Gegensätzen. Das Gegenteil von dem machen, was um einen herum passiert. Wenn ich durch ein Stadion auf den Boxring zumarschiert bin, die Scheinwerfer auf mich gerichtet waren und die Zuschauer tobten, dann habe ich versucht, so ruhig wie möglich zu bleiben. Je mehr Druck da draußen ist, desto ruhiger werde ich innerlich. Wenn kein Druck da ist und alle entspannt sind, dann spanne ich an.
ZEIT Spezial: Ist das Ihre Definition von Resilienz?
Tatjana Kiel
arbeitete von 2006 an als Managerin für Wladimir Klitschko und ist heute CEO seines Unternehmens.
Klitschko: Ja, eine davon.
Kiel: Es geht darum, an die eigene Handlungsfähigkeit zu glauben und daran, dass man auch in stressigen Situationen die Zügel in der Hand behält. Es geht erst mal um die eigene Bewertung, um mit Belastungen zurechtzukommen, nicht primär darum, wie schlimm etwas objektiv ist. In den Trainings vermitteln wir den Leuten, wie sie trotz Rückschlägen weitermachen.
Klitschko: Dranbleiben, egal was passiert. Mein Bruderherz ist, wie Sie vielleicht wissen, Bürgermeister von Kiew, aber er hat erst mal zwei Bürgermeisterwahlen brutal verloren, bevor er dann beim dritten Mal gewählt wurde.
ZEIT Spezial: Wie trainiert man Resilienz?
Kiel: Wir hatten vor einer Weile eine spannende Diskussion mit der Dekanin der Oxford-Universität. Sie wollte wissen, wie Wladimir sein Wissen weitergeben kann. Sie erzählte uns dann, sie hätten eine Studie über junge Erwachsene gemacht und dabei festgestellt, dass Helikopter-Eltern gestern waren und jetzt die sogenannten Curling-Eltern kommen. Die schrubben den Weg für die Kinder frei, dass da bloß kein Steinchen mehr liegt und sie unter keinen Umständen hinfallen. Lieber fallen sie noch selbst. Diese Generation ist dann aber gar nicht mehr in der Lage, überhaupt mit Niederlagen, Konfrontation oder Hindernissen umzugehen. Doch wenn sie nicht lernen zu fallen, dann lernen sie auch das Aufstehen und Vorankommen nicht.
ZEIT Spezial: Wie blicken Sie auf Hindernisse?
Klitschko: Na, mit Begeisterung!
Kiel: Das ist tatsächlich so.
ZEIT Spezial: Aber wie bringt man das Leuten bei, die nicht so mutig sind, den Ängstlichen und Unentschiedenen?
Klitschko: Mit Konsequenzen, man muss die Konsequenzen kennen. Das bedeutet: raus aus der Komfortzone. Sich selbst befragen: Wann geht es mir gut? Im Sport ist es sehr gefährlich, über- oder untertrainiert zu sein, man kann seinen Körper und Geist leicht schwächen, wenn man die Grenzen nicht gut kennt. Die Konsequenzen zu kennen heißt, das richtige Maß von Entspannung oder Anspannung zu kreieren. Das heißt im Übrigen auch, dass manch einer Entspannung lernen muss, dass er vielleicht erst herausfinden muss, was ihn richtig runterbringt. Das ist bei jedem unterschiedlich, und man muss Definitionen für sich finden.
Kiel: Sportler wissen genau, selbst wenn der dreißigste Liegestütz wehtut, wie viele sie noch machen können. Und sie sind sehr gut darin, subjektiven Stress als Gefahr für die eigene Leistungsfähigkeit zu erkennen, Ruhe zu finden, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und den Stress in mehr Antrieb zu verwandeln. Aber viel allgemeiner haben wir doch alle am meisten außerhalb unserer Komfortzonen gelernt, wenn wir herausgefordert wurden oder wenn wir ausgebremst wurden. Dann mussten wir reflektieren: Was war gut, und was war schlecht?