"Mindestlohn, Rentenbonus - so kurz vor den Wahlen sind das die Signale, dass wieder Geld im Umlauf ist, das kennen wir schon", sagt Yorgos Tsiampalis, 57. Besser geworden sei dennoch nichts, findet der Staatsbeamte, der eigentlich anders heißt, aber seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. "Mit den Parteien, dem Klientelsystem", sagt er, "tanzen alle Tango, die griechischen Bürger und auch die europäischen Partner." Die Krise habe bereits existierende Probleme nur verschärft, "es gibt keinen gerechten Geldverteilungsmechanismus".
Yorgos Tsiampalis arbeitet im Verwaltungsministerium im Zentrum von . Auf dem Höhepunkt der Krise demonstrierten nicht weit von dort Zehntausende gegen die Sparpolitik, junge Leute warfen Brandsätze, ein Rentner erschoss sich mitten auf dem Platz und hinterließ ein herzbrechendes Manifest. Er weigere sich, im Müll nach Essen zu suchen, schrieb der pensionierte Apotheker, und wolle seine Schulden nicht an seine Kinder weitergeben.
Tsiampalis' monatliches Gehalt ist in den vergangenen Jahren geschrumpft, um 30 Prozent auf 1303,93 Euro. Er erwartet nicht, dass sich das schnell ändert: Die griechische Sparpolitik ist bis ins Jahr 2060 angelegt. "Dann bin ich 98 Jahre alt", sagt Tsiampalis.
Tourismus
Übernachtungen pro Jahr in Millionen
Tsiampalis wurde 1997 noch unter der Regierung verbeamtet, jener Partei, die 1981 erstmals an die Macht kam. Sie stellte ein Beamtenheer auf, bis der öffentliche Sektor einen Großteil der griechischen Wirtschaft ausmachte. Es entstand eine Kultur des Staatskonsums auf Pump, befördert von jenen, die davon profitierten, also von Politikern, Vermögenden, Bankern - ein Beziehungsgeflecht aus kleineren und größeren Gefälligkeiten. Ministerpräsident Tsipras stilisierte sich bei der Wahl 2015 zur Galionsfigur im Kampf gegen diesen Klientelismus. Heute ist sein Cousin Jorgos Tsipras als Berater im Außenministerium tätig. Seine Ehefrau arbeitet für das Wirtschaftsministerium. Minister seines Kabinetts haben sich Mietzuschüsse ausgezahlt, obgleich sie Immobilien besitzen.
Das von allen Regierungsparteien gepflegte System der metakliti sei sogar weitreichender geworden, erzählt Yorgos Tsiampalis. Gemeint sind damit Beamte rund um die Minister, die keine wirkliche administrative Aufgabe haben. Neben den metakliti gibt es auch noch die symvasiouchos, auf Vertragsbasis angestellte Mitarbeiter, die den großen Beamtenapparat weiter verstärken. Wozu es sie braucht? Der Ökonom George Bitros von der Athener Universität für Wirtschaftswissenschaften flüchtet sich in Sarkasmus: "Die Minister werden Ihnen alle möglichen Anekdoten erzählen. Dringende Baumpflege im Frühjahr oder was auch immer." Bitros erforscht die Institutionen seines Landes seit Langem, die ineffiziente Verwaltung ist eines seiner Hauptthemen: Während in Deutschland rund 11 Prozent der Erwerbstätigen im öffentlichen Sektor beschäftigt seien, seien es in Griechenland über 20 Prozent, sagt Bitros. "Ich bin enttäuscht, dass die Experten der EU und des IWF, die die Sparprogramme ausgearbeitet haben, da weggeschaut haben." Das diene weder den Interessen Griechenlands noch den Mandaten ihrer Organisationen. Das alte Klientelsystem überlebte die Krisenjahre.
Weniger Geld für mehr Arbeit? Da nehmen die Ärzte gerne Zuwendungen von ihren PatientenDer Arzt Alexandros Sarantopoulos, 44, arbeitet seit 13 Jahren im griechischen Gesundheitssystem. Sein Arbeitsplatz ist das Universitätsklinikum in Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt Griechenlands. Mit mehr als 2000 Betten ist es eines der größten Krankenhäuser des Landes.
Für ihn bedeutet die Krise: Für weniger Geld gibt es mehr Arbeit. "Früher bekam ich 2000 Euro überwiesen, heute sind es etwa 1200", sagt Sarantopoulos. In seinem Krankenhaus betreue ein Arzt dafür heute durchschnittlich 60 Patienten am Tag. Vor der Krise seien es mit 40 auch schon viele gewesen. Laut einer Studie der Vereinigung der Beschäftigten in öffentlichen Krankenhäusern sei seit acht Jahren nicht mehr in neue Ausrüstung investiert worden. Auch nachdem Griechenland den europäischen Rettungsschirm verlassen hat, ist der Zwang zum Sparen da. Es gebe etwa zu wenige CT-Scanner, erzählt Sarantopoulos, was zu langen Wartelisten führe. Patienten kämpften um die begehrten Termine.
Sarantopoulos findet, dass niemand für eine Behandlung beim Arzt extra bezahlen sollte. "Fakelaki",die kleinen Kuverts von Patienten mit Geld darin, die in Griechenland eine gewisse Tradition haben, nähmen aber viele Ärzte noch immer.
Auf der Website der gemeinnützigen Organisation "Edosa Fakelaki", was so viel heißt wie "Ich habe bestochen", können Griechen anonym Fälle melden. Die Schilderungen vermitteln einen anekdotischen Eindruck von der alltäglichen Korruption im Land. Es geht um Fahrlehrer und Stadtplaner, das Steueramt, das Bildungs- und das Entwicklungsministerium, um die staatliche Krankenkasse und das Gesundheitsministerium. Ganz oben auf der Liste stehen die öffentlichen Krankenhäuser mit 1200 Meldungen und einer fakelaki- Summe von insgesamt etwas über zwei Millionen Euro. Das ist keine repräsentative Studie, aber gibt einen Eindruck von den Dimensionen.
Dabei war die Bekämpfung der Korruption eine der grundlegenden Bedingungen für die Rettungspakete. Trotzdem ist Griechenland im jüngsten Korruptionsbericht von Transparency International von Platz 59 im Jahr 2017 auf Platz 67 abgestiegen. In der Europäischen Union liegt Griechenland damit vor Bulgarien und Ungarn auf dem drittletzten Platz.
Rentner müssen ihre Familien durchbringen – und das Geschäft von Dimitris Kampanaros
Dimitris Kampanaros, 39, leitet ein Altenheim in Kifisia, einer wohlhabenden Gemeinde im Norden Athens. 3000 Quadratmeter, ein Haus mit 108 Betten, Psychologen, Ergotherapeuten, Ausflüge für die Alten – in Griechenland ist derlei Luxus. Früher betrieb Kampanaros zwei Gebäude mit 216 Betten. "Ich hatte einmal das größte Altenheim im Land", sagt er. Doch im Jahr 2015, nach dem Beschluss des griechischen Sparplans, musste er drastisch reduzieren. Betten standen leer. "Ich konnte mir die Miete nicht mehr leisten."
Die Renten wurden im Zuge der Reformen um bis zu 40 Prozent gekürzt. Damit ist die Nachfrage bei Kampanaros gesunken, er musste seine Preise senken. Wobei die Zimmer auch heute nicht billig sind: 1000 Euro im Monat können die wenigsten Rentner aufbringen.
Die 82-jährige Yolanda Karagiosis wohnt in Kampanaros’ Altenheim. Auch sie möchte ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Früher bekam sie 1200 Euro Rente, heute sind es knapp 750 Euro. Um hier wohnen zu können, verkaufte sie ihre 130-Quadratmeter-Eigentumswohnung. Von den Erlösen finanziert sie nicht nur die Unterkunft, sondern subventioniert auch ihre erwachsene Tochter mit 200 Euro im Monat. "Ich kann mir nicht mal mehr meine Bodylotion leisten", sagt Karagiosis. Die Familie ist im krisengeschüttelten Griechenland oft das Netz. "Die Lage der Älteren hat sich noch verschlimmert, weil sie die jüngeren Generationen unterstützen müssen", sagt Kampanaros.
Während viele Familien auf die Renten der Alten angewiesen sind, wird es den Jungen zukünftig noch schwerer fallen, diese zu erwirtschaften. Heute machen die über 65-Jährigen 21 Prozent der Einwohner Griechenlands aus, 2050 werden es voraussichtlich 33,3 Prozent sein.
Zur Rettung des Landes brauche es jedoch mehr als frisches Geld, glaubt Kampanaros, es brauche auch einen Mentalitätswechsel. Es sei nämlich so, dass viele Griechen sich dem Beitrag zu ihrem Gemeinwesen entziehen. "Ich habe Leute, die zu mir kommen und sagen: Dimitris, bitte keine Quittung. Wir können beide sparen. Wir können uns von der Mehrwertsteuer befreien." Kampanaros antworte ihnen dann immer das Gleiche: "Weißt du, was dann passiert? Dann werden die Renten wieder gekürzt."
Wer jung ist und einen klaren Kopf hat, wandert aus, erzählt Lefteris Papadakis
Lefteris Papadakis, 26, steigt die Treppen zum Arbeitsamt hinauf, seit Mai ist er wieder arbeitslos gemeldet. Es stehen viele junge Leute in der Schlange mit Jeansshorts und bunt gefärbten Haaren, hier in Kypseli, dem am dichtesten besiedelten Stadtteil Athens.
Papadakis hat einen Anspruch auf 400 Euro Arbeitslosengeld für sechs Monate. Davor verdiente er 700 Euro im Monat, typisch für junge Griechen. Egal ob sie bei einer Bank oder einem Konzern arbeiten – viele bekommen sogar weniger. Es gibt einen eigenen Begriff im Griechischen für sie, "die 700-Euro-Generation". Gleichzeitig ist der Alltag teurer geworden in Griechenland, vor allem nachdem die Regierung die Mehrwertsteuer auf 24 Prozent angehoben hatte. Dazu kamen Extrasteuern, etwa für Kaffee oder Bier.
Bei seinem letzten Job in einer Kreativagentur habe Papadakis oft 15-Stunden-Schichten schieben müssen, auch die Wochenenden durcharbeiten, die Überstunden habe er nicht bezahlt bekommen, erzählt er. Als er angefangen habe, sich zu beschweren, sei er gekündigt worden. Solche Geschichten können viele aus der 700-Euro-Generation erzählen.
Sie spürt alle Nachteile einer liberalen Arbeitsmarktpolitik, aber nicht die Vorteile, weil die Regierung die möglichen Wachstumseffekte in der Privatwirtschaft fesselt. Zumindest ist das die Diagnose des Ökonomen Bitros. Er sagt: "Die Arbeitslosen kommen alle aus der privaten Wirtschaft." Ein Grund sei, dass die Regierungen nach 2009 "Steuern über Steuern auf Bürger und Unternehmen geladen" hätten. In der Folge seien Tausende Unternehmen pleitegegangen.
Die Mehrheit der jungen Griechen studiert. Papadakis hat neulich auf Facebook gepostet: "Überqualifiziert zu sein ist anscheinend das Schlimmste in meiner Karriere." Sein Hochschulstudium in audiovisueller Kommunikation hat er mit "sehr gut" abgeschlossen. Er würde gern einmal als Art-Direktor arbeiten. In den vergangenen drei Jahren habe er 300 Bewerbungen verschickt, berichtet er. Momentan unterstützen ihn seine Eltern mit 200 Euro im Monat.
Die Arbeitslosigkeit in Griechenland liegt insgesamt stabil bei 18 Prozent. Doch unter den 15- bis 24-Jährigen sind rund 40 Prozent arbeitslos, die höchste Quote Europas. "Alle, die ich kenne, sind irgendwie depressiv", sagt Papadakis. Seine Mitbewohnerin sei schon länger ohne Arbeit, sie vergrabe sich den ganzen Tag im Zimmer und kiffe. "Das ist ihre Exit-Strategie."
Griechen haben 500.000 das Land während der Finanzkrise verlassen, meist solche mit guten Hochschulabschlüssen wie Ingenieure oder Ärzte. "Hoffnungslosigkeit ist der Normalzustand meiner Generation", sagt Papadakis.
Auch er will nun weg aus Griechenland, neulich hat er sich in Berlin nach Jobs und WG-Zimmern umgeschaut. "Ich habe mir oft selbst die Schuld gegeben: Hätte ich mal was Anständiges studiert." Bis er merkte, es liegt nicht an ihm, es geht allen so. Mit der Perspektive, bald auszuwandern, ist er nun optimistischer.
Peter Economides glaubt an diejenigen, die genug haben vom alten System
"Alle Griechen sind unglücklich", sagt Peter Economides, "alle." Der Marketingstratege hat in einer Agentur in Los Angeles in den Neunzigerjahren daran mitgearbeitet, die Firma Apple wieder erfolgreich zu machen, auf ihn geht die Kampagne "Think different" zurück. Heute lebt er in Voula, an der sogenannten Athener Riviera. Die griechische Elite baute hier einmal ihre Häuser, Nachtclubs gab sie Namen wie "Rich". Eine pompöse Architektur mit kitschigen Säulen, die für die Generation steht, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren die Geschicke des Landes bestimmte, von der viele Griechen sagen, sie sei verantwortlich für die Misere. Viele der Clubs sind inzwischen verlassen.
Economides teilt Griechenland in drei Gruppen – jene, die sich die Verhältnisse zurückwünschen, wie sie vor 30 Jahren waren, eine große Gruppe im Stillstand und diejenigen, die genug haben von dem alten System und der Resignation. "Diejenigen, die auf morgen hoffen. Da liegt das Potenzial", sagt Economides. Visionen sind sein Geschäft: "Griechenland könnte die Westküste Europas werden", sagt er. "Ein neues Silicon Valley am Ägäischen Meer." Tatsächlich entstehen einige Start-ups in Athen, die Bezahl-App VivaWallet oder die Taxi-App Beat sind erfolgreich. "Das gab es vor sechs Jahren nicht", sagt Economides. Auch im Zentrum Athens sieht man neue Bars und Restaurants, die Stadt wandelt sich zu einer der hippen Städte in Europa.
Der jüngste Bericht des World Economic Forum zur Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands fällt dennoch sehr ernüchternd aus. Griechenland liegt auf dem vorletzten Platz unter den EU-Ländern. Der Ökonom Bitros glaubt, dass Griechenland weitere zehn Jahre brauchen werde, um seine Wirtschaft in eine echte Marktwirtschaft mit einem kleinen öffentlichen Dienst zu verwandeln – falls denn Politik und Verwaltung mal damit anfangen und seine Landsleute mitmachen.