(Text: Semsa Salioski, Collagen: Zoe Opratko)
DAS REVIVAL DER "NEW AGE SPIRITUALITY"
"Es ist hier überhaupt nicht seltsam nach dem Aszendenten oder Mondzeichen zu fragen, ob auf der Arbeit oder beim ersten Date. Der Astrologie-Hype ist hier noch viel spürbarer als bei uns." erzählt die 32-jährige Diana, die derzeit in Abu Dhabi tätig ist. Die Projektmanagerin aus Wien legt viel Wert auf Bildung und hat Abschlüsse in den Studiengängen Politikwissenschaft, Internationale Entwicklung, Global Business and Politics sowie Projektmanagement. Privat beschäftigt sie sich jedoch fast täglich mit weniger weltlichen Dingen wie Spiritualität und esoterischen Praktiken. Sie erzählt, dass sie sich schon als Jugendliche Bücher zum Thema Astrologie gekauft hat und somit zum ersten Mal von Aszendenten, Mondzeichen, Venuszeichen oder gar Horoskophäusern gehört hat. Zuvor wusste sie, wie die meisten Leute, nur was ihr Sonnenzeichen ist. Heute informiert sie sich durch ihren Freundeskreis, aber auch den zahlreichen Esoterik-InfluencerInnen auf sozialen Netzwerken, über sogenannte "New Age Spirituality"-Konzepte und integriert dieses Wissen in ihren Alltag.
"New-Age-Spirituality" ist eine Bewegung, die ursprünglich in den USA in den 60er Jahren entstanden ist. Sie vereint diverse spirituelle und esoterische Glaubenskonzepte Grundsätzlich wird sie mit Astrologie, Wahrsagerei, energetischen Heil- und Reinigungspraktiken, sowie Konzepten aus dem "Gesetz der Anziehung" assoziiert. Die Strömung erlebt vor allem bei jungen Frauen in Form von zahlreichen beliebten Astrologie-Accounts auf sozialen Medien, wie Instagram und YouTube, seit einigen Jahren ein immenses Revival. Wer denkt, dass es sich bei den AnhängerInnen nur um "schrullige Esoteriktanten" handelt, die immer eine Glaskugel in der Tasche haben, liegt falsch. Bekannte "Spiritual Content"-Instagram-Profile wie "Rising Women", haben mittlerweile 2 Millionen Follower. Der "YouTube"-Kanal "Power Thoughts Meditation Club", der Videos mit sogenannten "heilenden Frequenzen" veröffentlicht, zählt aktuell bereits 1,65 Millionen AbonnentInnen. Auf der von hauptsächlich jüngerem Publikum genutzten App „TikTok" werden Videos mit Hashtags wie #astrology, #spirituality oder #tarotreading tatsächlich millionenfach aufgerufen. Software-Hersteller brachten 2017 nicht umsonst eine eigene App ("Co-Star") mit individualisierten Horoskopen auf den Markt, die bis Ende letzten Jahres über 3,4 Millionen Mal runtergeladen wurden.
Wegen ihres Jobs in Abu Dhabi sind Diana die kulturellen Unterschiede im Umgang mit Themen dieser Art schnell aufgefallen: "Ich arbeite hier in den Vereinigten Arabischen Emiraten viel mit Einheimischen zusammen und habe gemerkt, dass die Leute total offen über spirituelle Tabuthemen sprechen. Gespräche über Geister, schwarze Magie oder Nazar, also das böse Auge, stehen in Abu Dhabi an der Tagesordnung. Einige tragen deswegen Schutzamulette wie die sogenannte Hand der Fatima. Sie verrät außerdem: "Viele Leute, die ich kenne haben ihr Sternzeichen sogar direkt in der Instagram-Bio stehen, weil es für sie ganz klar zu ihrer Identität gehört. Das ist mir sogar bei den Männern aufgefallen!"
Die Wienerin meditiert fast täglich und hört dabei "heilende Frequenzen" via "YouTube" , die Körper und Geist positiv beeinflussen sollen. In ihrem Wiener Freundeskreis ist das keine Seltenheit. Sie meditieren bei Vollmond manchmal zusammen und versuchen mit diesem Ritual ihre Wünsche zu manifestieren. Mit traditionellen Religionen konnte sie, noch nie etwas anfangen, da sie ihr zu dogmatisch sind und sie in allem, was sie tut, sehr liberal bleiben möchte. Spiritualität hat für sie persönlich vor allem mit Self-Development und Self-Awareness zu tun, was, ihrer Meinung nach, der Schlüssel zu einer besseren Gesellschaft ist.
Aus Neugier war Diana auch schon einmal bei einer Wahrsagerin. „Ich war damals in einer langen Beziehung und habe außerdem überlegt, ob ich in London studieren soll. Die Dame hat mir beinhart gesagt, dass ich nicht mit meinem Freund zusammenbleiben werde und sie mich zwar irgendwo anders als in Wien sieht, aber nicht in London. Tatsächlich waren wir wenig später, nach fünf Jahren Beziehung, getrennt und der Plan mit London hat auch nicht geklappt. Das ist mir auf jeden Fall in Erinnerung geblieben. Ich kenne viele, denen Ähnliches passiert ist.", erinnert sie sich.
„Ich bin sehr religiös erzogen worden und war innerhalb von zehn Jahren an sechs verschiedenen Koranschulen. Religion hat mir persönlich aber einfach keinen Halt gegeben, weil ich nichts mit den Guidelines anfangen konnte", antwortet die 22-jährige Biftu auf die Frage, inwiefern Spiritualität in ihrer Erziehung eine Rolle gespielt hat. Die Studentin bezeichnet sich heute als Agostikerin, doch das war nicht immer so. Ihre Mutter ist streng gläubige Muslima und wollte, wie die meisten Eltern, ihren Glauben auch an ihre Tochter weitergeben. Sie stellt klar: Durch meine religiöse Mutter habe ich mich auf jeden Fall zu einem spirituellen Menschen entwickelt, nur hat sich das Ganze bei mir einfach anders äußern wollen." Die Münchnerin mit äthiopischen Wurzeln zog für ihr Studium in Publizistik- und Kommunikationswissenschaft alleine nach Wien. In ihrer Freizeit versucht sie regelmäßig zu meditieren und spaziert immer wieder mit Räucherstäbchen oder weißem Salbei durch ihre Wohnung. Biftu ist davon überzeugt, dass dadurch negative Energien beseitigt werden. Sie fügt hinzu: "Räucherstäbchen kenne ich ja auch aus meinem äthiopischen Elternhaus. Sie sind ein Bestandteil der Kultur. Ich glaube dieses Ritual sorgt gleichzeitig dafür, dass sich die Räume hier für mich dann auch ein bisschen heimischer anfühlen."
Biftu stieß auf der Videoplattform "YouTube" auf "New Age Spirituality"-Themen. Auf sozialen Medien folgt sie auch zahlreichen Astrologie-Seiten, um sich Tipps für Interpretationen ihres eigenen Geburtshoroskops zu holen und nutzt regelmäßig Apps wie "Co-Star" und "The Pattern". Auf die Frage, ob sie beim Daten auf astrologische Kompatibilität achtet, antwortet sie lachend: "Naja, wenn ich einen Typen kennenlerne und ihn nach einer Weile nicht nach seinem Geburtstag, Geburtsort und seiner Geburtsuhrzeit frage, bin ich definitiv nicht interessiert!"
Für alle, die es nicht wissen: Diese Informationen braucht man für die Erstellung eines Geburtshoroskops. Darin findet man neben dem Sonnenzeichen, das den meisten bereits bekannt ist, auch andere grundlegende
astrologische Einflüsse wie den Aszendenten, das Mond- oder Venuszeichen,
sowie die Planetenpositionen innerhalb der zwölf
Horoskophäuser.
Auch die 25-jährige Aurora, die nach ihrem Studium in Translationswissenschaft einen Kommunikationsworkshop begonnen hat, befasst sich privat sehr intensiv mit den Theorien und Praktiken der "New Age Spirituality". Aus gesundheitlichen Gründen hat sie vor einigen Jahren zuerst mit Meditation angefangen und ist via "YouTube" auf „heilende Frequenzen" und „Reiki", also Energietherapie, gestoßen. Sie ist zwar in einer katholischen Familie aufgewachsen, fing jedoch bereits im Teenageralter an, sich für andere Länder, Kulturen und Religionen zu interessieren. Vor allem über den Islam und den Buddhismus weiß sie durch ihre zahlreichen Hobby-Recherchen besonders viel. Mittlerweile hat sie auch fast alle Kontinente bereist und zahlreiche interkulturelle Freundschaften geschlossen, die sie bis heute pflegt. Von ihrem Wiener Freundeskreis wird sie deswegen auch scherzhaft Mrs. Worldwide (Anspielung auf das Pseudonym Mr. Worldwide von Rapper „Pitbull") genannt. Ob Kreuzkette, Hamsa-Schutzanhänger, Buddha-Statue, Traumfänger oder Räucherstäbchen - Auroras spirituelle Seite spiegelt sich sehr deutlich in der Einrichtung ihrer Wohnung wider. Sie meint dazu: "Ich finde, dass in allen Formen von Spiritualität Weisheiten stecken, also picke ich mir das heraus, was mir gefällt. Als traditionell religiös kann ich mich nicht bezeichnen, weil ich mich nicht unbedingt an DOs und DON'Ts halten will. Es kann aber eben nicht nur einen richtigen Weg geben. Viele Aspekte aus Religionen überschneiden sich ja sogar auch. Zum Beispiel faste ich - in vielen Glaubensströmungen gilt das als Reinigung von Körper und Geist."
ACHTSAMKEIT ALS WEGBEREITER
Was für andere Beten ist, sind für Aurora positive Gedanken und Manifestation, also das bewusste Erschaffen der eigenen Realität. Darüber informiert sie sich vor allem auf der Video-Plattform "TikTok". Auch Astrologie gehört für die 25-Jährige mittlerweile zum Alltag, da sie, wie Biftu und Diana, regelmäßig Apps nutzt, um ihr eigenes Geburtshoroskop und die Planeteneinflüsse auf ihr Leben interpretieren zu lassen.
Was könnte die Ursache für diesen unübersehbaren Erfolg von Content dieser Art sein? Für Aurora liegt die Antwort ganz klar darin, dass Menschen sich durch die große Achtsamkeits-Bewegung mehr mit ihrem Körper, ihrer Psyche oder ihrem Geist beschäftigen. Astrologie, Manifestation, Meditation und Reinigungsrituale scheinen gut anzukommen, weil sie den Personen am Ende des Tages gut tun, ob das nun Einbildung ist oder nicht. Sie schätzt auch die Freiheit auszuüben, was sie möchte - egal, wie skurril es auch sein mag. Biftu fügt hinzu, dass man durch die sozialen Netzwerke außerdem leichter Gleichgesinnte findet und diese Community damit immer weiter ausgebaut wird, was dafür sorgt, dass viele den Halt finden, den sie brauchen.
Politische Instabilität oder Wirtschaftskrisen würden die Zuwendung zu Spiritualität unter jungen Leuten stark begünstigen, sagen zumindest viele ExpertInnen. Vor allem die junge Generation suche in solchen Zeiten nach Halt und Entspannung und finde sie in Form von Energiereinigungsritualen oder Meditationsanleitungen - oder auch frechen Sternzeichen-Memes, die beispielsweise eifersüchtige Skorpione oder beziehungsunfähige Schützen ordentlich durch den Kakao ziehen. Astro-Accounts, die vor zurückkriechenden Exfreunden während einer rückläufigen Merkurphase warnen, gibt es, wohin der Finger scrollt. Das mag für Außenstehende unverständlich und schräg sein, aber schaden tun sie niemandem. Also lassen wir Generation Y und Z einfach in Ruhe meditieren, Tarotkarten legen und ihre Geburtshoroskope bis auf den letzten Planeten analysieren.