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Die neue Freiheit boomt und ernüchtert

(Eine Welt) 

Nach jahrzehntelanger Abschottung und Militärdiktatur öffnet sich Myanmar seit zwei Jahren in atemberaubendem Tempo sowohl politisch wie wirtschaftlich. Fast scheint es, als können dem Land Fortschritt und Demokratie nicht schnell genug kommen. Doch längst nicht alle Bevölkerungskreise profitieren von der Entwicklung, und es kommt regelmässig zu Übergriffen auf Minderheiten.


Noch vor zwei Jahren wirkte Yangon wie ein aus der Zeit gefallenes Provinznest. Die historische Innenstadt rottete vor sich hin, auf den Strassen waren fast nur alte Autos aus den 1980er Jahren zu sehen. Mittlerweile jedoch sind die Anzeichen des Fortschritts in Myanmars alter Hauptstadt Yangon unübersehbar: Quälend lange Staus ziehen sich durch die gesamte Stadt, überall wird gebaut, gehämmert, geschweisst und Asphalt aufgebrochen. Geschäftsleute aus aller Welt strömen nach Burma, dementsprechend sind die Hotelzimmerpreise in die Höhe geschossen.

Hinzu kommen Heerscharen an Touristen, die in das Land drängen, seit Burma nicht mehr als Pariah-Staat gilt. Überall werden neue Geschäfte, Restaurants und Bars eröffnet.Der Boom ist eine direkte Folge der politischen Öffnung des Landes, die Myanmars Präsident Thein Sein vor zwei Jahren eingeleitet hat. Der ehemalige General hat seit seinem Amtsantritt im März 2011 dieVorzensur für die Presse beendet und Hunderte politische Gefangene aus der Haft entlassen. Unterhändler der Regierung haben Waffenstillstandsabkommen mit beinahe allen ethnischen Milizen des kriegsgeschüttelten Landes unterzeichnet. Demokratieführerin Aung San Suu Kyi, die für ihre Überzeugungen fast 15 Jahre in Hausarrest verbracht hat, sitzt heute als Abgeordnete im Parlament in der neuen Hauptstadt Naypyidaw.

Längst nicht überall Fortschritt In den riesigen Arbeitersiedlungen, die an das Industriegebiet Hlaing Thar Yar nordwestlich von Yangon grenzen, ist der Aufschwung jedoch noch nicht angekommen. Etwa eine Autostunde von Yangons Innenstadt entfernt leben hier Hunderttausende Arbeiter mit ihren Familien, die meisten von ihnen in einfachen Holzoder Bambushütten. Die Lebensbedingungen sind schwierig:Es gibt weder fliessendes Wasser noch eine Kanalisation. Im nahe gelegenen staatlichen Gesundheitszentrum gäbe es häufig keine Medikamente, sagen die Anwohner. Hilfe suchen sie sich meist in einer Klinik, die das UNO-Kinderhilfswerk Unicef schon vor Jahren hier eröffnet hat.

Hla Nyunt und seine Frau leben seit mehr als 20 Jahren hier. Der 56-Jährige arbeitet als Nachtwächter in einer Fabrik und verdient damit etwas über 40 Franken im Monat. Das Haus der beiden ist eine wackelige Bambuskonstruktion, in der auf zwei Stockwerken sieben Menschen leben. Mehrere grosse Plakate mit Bildern von Aung San Suu KyihängenimWohnraum.HlaNyuntistMitglied ihrer Partei, der Nationalen Liga für Demokratie (NLD). Auf einem Holztisch stehen ein kleiner Farbfernseher und ein DVD-Spieler.

Hla Nyunts Frau sitzt in einer kleinen vorgelagerten Hütte, die als Küche dient, und schält Zwiebeln und Knoblauch. Damit verdient sie knapp einen Franken am Tag. Ihre sieben Kinder leben alle in der Nähe und schlagen sich ebenfalls mit Gelegenheitsjobs durch. «Es hat schon Veränderungen gegeben», sagt Hla Nyunt, «früher war es unmöglich, sich politisch oder seine Wünsche zu äussern, das ist heute ganz anders. Auch können die Menschen jetzt Kritik an der Regierung üben.Wirtschaftlich hat sich jedoch nicht viel verbessert. Ganz im Gegenteil: Die Lebensmittel wurden in zwei Jahren so teuer, dass viele Arbeiterfamilien Schwierigkeiten haben, jeden Tag für alle Familienmitglieder genug Essen auf den Tisch zu stellen.» Trotz der politischen Öffnung finden viele Menschen in Myanmar, dass es mit ihrem Land nicht wirklich vorangehe. Und sollte der herbeigesehnte wirtschaftliche Aufschwung dennoch irgendwann einsetzen, dann würden vor allem die alten Eliten aus der Zeit der Militärdiktatur davon profitieren.

Hetzkampagnen und Ausschreitungen Die Frustration über den ausbleibenden wirtschaftlichen Aufschwung dürfte eine der Ursachen für die wohl gravierendste Negativentwicklung der vergangenen zwei Jahre sein: Immer öfter kommt es zu schweren, religiös motivierten Ausschreitungen. Der bislang schlimmste Vorfall hat sich vergangenes Jahr in der Rakhine-Provinz im Westen des Landes ereignet. Nach dem Mord an einer jungen Buddhistin, für den Mitglieder der überwiegend muslimischen Rohingya-Ethnie verantwortlich gemacht wurden, kam es zu Angriffen auf Muslime,die schnell zu regelrechten Pogromen anwuchsen. In zwei Gewaltwellen kamen Hunderte Menschen ums Leben, die meisten von ihnen Muslime. Die Angreifer zerstörten ganze Stadtteile und Dörfer. Mehr als 120 000 Rohingya sitzen heute in Flüchtlingslagern fest, die sie nicht verlassen dürfen und wo es am Nötigsten mangelt.

In den vergangenen Monaten haben sich die Ausschreitungen gegen Muslime,die rund fünf Prozent der Einwohner des Landes ausmachen, ausgeweitet. Derzeit vergeht kaum eine Woche, in der es nicht neue Berichte über religiös motivierte Gewaltakte gibt. Der Gewalt gehen häufig antimuslimische Hetzkampagnen durch Anhänger radikaler buddhistischer Gruppen voraus.

Der prominenteste Fanatiker des Landes ist der buddhistische Mönch Ashin Wirathu. Der heute 45Jährige sass bis zum vergangenen Jahr im Gefängnis, weil er 2003 mit einer Hetzrede tödliche Übergriffe auf Muslime ausgelöst hatte. Im Zuge einer weltweit gefeierten Amnestie für politische Gefangene kam auch Wirathu frei – und setzte seine Hasskampagne sofort wieder in Gang. Sie ist gespickt mit Beschimpfungen und rassistischen Beleidigungen gegenüber Muslimen. Er fordert seine Landsleute dazu auf, sich von Muslimen zu distanzieren, nicht in ihren Geschäften einzukaufen, sie nicht zu heiraten und ihnen kein Land zu verkaufen.Auch sollen sie sich von der Demokratieführerin Aung San Suu Kyi abwenden. Denn ihre Partei sei, genau wie alle übrigen grossen Parteien, von Muslimen unterwandert.

Fehlendes Vertrauen der Minderheiten Suu Kyis Ansehen hat infolge der immer wiederkehrenden Gewalt in der Tat gelitten. Dies jedoch vor allem im Ausland: Denn trotz der verheerenden Ausschreitungen schweigt Suu Kyi weitgehend zu dem Thema. Offenbar möchte die Politikerin es vermeiden,sich bei der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit Sympathien zu verspielen. Kritiker bemängeln, dass die Friedensnobelpreisträgerin ihr hohes Ansehen und ihre grosse moralische Autorität dazu nutzen müsse, der Gewalt Einhalt zu gebieten.

Im ersten Stock des NLD-Hauptquartiers in Yangons Stadtteil Bahan sitzt an einem Schreibtisch Tin Oo, der 85-jährige, vor Energie sprühende Vizevorsitzende von Suu Kyis Partei.Auf die anhaltende antimuslimische Gewalt angesprochen erklärt er, korrupte Beamte hätten während der Zeit der Militärdiktatur viele Einwanderer aus Bangladesch und Indien ins Land gelassen, was nun zu den Problemen beitrage: «Wir müssen bei denjenigen, die hier leben, prüfen, ob sie wirklich schon lange hier sind und ob derenVorfahren schon hier gelebt haben. Falls ja, haben sie ein Recht, hier zu leben und sind auch burmesische Staatsbürger.» Für alle anderen gelte aber in jedem Fall «das Menschenrecht, in Frieden zu leben». Entwicklungspolitisch müsse ein Klima desVertrauens geschaffen werden, fordert Tin Oo. «Die Menschen dürfen nicht in Sorge sein, dass man sie für grosse Industrieprojekte – die zweifellos kommen werden – enteignet, ohne dafür angemessen entschädigt zu werden. Das gilt insbesondere für die ethnischen Minderheiten des Landes.Wir müssen unser Möglichstes tun, damit diese uns vertrauen und dadurch auchVertrauen in die nationale Einheit des Landes finden.»

Aufruf zu friedlichem Zusammenleben Vielen Menschen scheint jedoch das Vertrauen, zumindest dasjenige in ihre Polizei, abhanden gekommen zu sein. In vielen Stadtteilen Yangons, aber auch in vielen Dörfern und anderen Städten des Landes haben sich Bürgerwehren gebildet, denen Mitglieder aller Religionsgruppen angehören. Sie sind eine Reaktion auf die Zurückhaltung ihrer Vorbildfiguren und auf die Untätigkeit der Behörden. Die Garden bewachen nachts die Zugänge zu ihren Vierteln und achten darauf, dass keine Fremden eindringen und Unfrieden stiften. Augenzeugen berichteten nach den gewalttätigen Ausschreitungen der jüngsten Zeit oft, dass viele der Angreifer von auswärts in die betroffenen Gemeinden gekommen waren.

In Yangon verteilen derweil junge Aktivisten unter dem Motto «Beten für Myanmar» regelmässig Flugblätter,T-Shirts und Aufkleber, auf denen sie zu einem friedlichen Zusammenleben aufrufen. 95 Prozent der Menschen, so einer der Initianten der Aktion, nehmen die Aufkleber und T-Shirts gerne an.