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Impfgegner: Auswandern statt impfen

Clara Meissner ist samt Familie nach Paraguay ausgewandert, Viola Neumann ist auf dem Sprung. Wie Hunderte Deutsche hoffen sie, so den Corona-Maßnahmen zu entgehen.

Was Clara Meissner* per Telegram schickt, sieht aus wie Urlaubsfotos: der riesige Mangobaum im Innenhof, eine Party mit vielen Menschen auf einer weiten Wiese, Palmen, die Familie lächelnd an einem Restauranttisch. Doch Meissner und ihre Familie sind nicht im Urlaub. Sondern auf der Flucht vor den "C-Maßnahmen", wie sie sie nennt. Sie haben Deutschland verlassen und sind nach Paraguay ausgewandert, wo sie sich ein Leben ohne Masken und Kontaktbeschränkungen erhoffen, und vor allem ohne Corona-Impfung.

Clara Meissner ist 52 und kommt aus einer Kleinstadt in der Nähe von Trier. Sie und ihr Mann arbeiteten dort als Finanzberater, der Sohn ging zur Schule. Ein typisches deutsches Leben. Dann kam Corona.

Meissner sagt, ihr gesamter Bekanntenkreis habe ihr von einer Impfung abgeraten. Zu gefährlich, hätten sie gesagt. Als dann die Impfempfehlung für über Zwölfjährige kam, sei es endgültig zu viel gewesen. "Mein Sohn ist elf ", sagt Meissner, "den muss ich schützen." So empfand sie das. Anfang Oktober wanderten sie aus.

Meissner hat geschafft, was Viola Neumann noch plant. Neumann ist Ende 30 und lebt in einer 20.000-Einwohner- Stadt bei München. Auch für ihre Familie soll es nach Paraguay gehen. Auch für ihre Entscheidung spielen die Impfungen eine wichtige Rolle. Und doch unterscheiden sich die Geschichten der beiden Familien.

"Dann wandere ich aus" dürfte meist eine leere Drohung sein, wenn es um Corona-Maßnahmen geht, Ausdruck großer Wut, aber kein konkreter Plan. Und doch sind Viola Neumann und Clara Meissner nicht die einzigen Deutschen, die wegen der Corona-Maßnahmen ins Ausland gegangen sind oder mit dem Gedanken spielen. Konkrete Zahlen gibt es nicht, doch bei veritas, einer Berliner Beratungsstelle, hält man eine dreistellige Anzahl ernsthaft Ausreisewilliger durchaus für realistisch.

Als Ungeimpfte, sagt Neumann, könne sie schon jetzt nur noch Essen kaufen gehen, woanders komme sie nicht mehr rein, nicht ins Kino, nicht ins Restaurant. Dabei sei sie keine Radikale. Sie trage eine Maske, halte Abstand. Nur bei der Impfung habe sie sich anders entschieden als 70 Prozent der Bevölkerung. Die Reaktion darauf, so empfindet Neumann es, sei unheimlicher Druck, eine Atmosphäre, die sie bedrohlich finde. "So wie sich die Gesellschaft momentan entwickelt, wie sie auf die Ungeimpften losgeht, so möchte ich nicht leben", sagt sie.

Die notwendigen Papiere – darunter die internationale Geburtsurkunde, ein gültiger Reisepass und ein Führungszeugnis – habe sie bereits beantragt. Spätestens Anfang nächsten Jahres soll es losgehen.

Paraguay ist ein Land, in das man relativ unkompliziert einwandern kann, dessen Lebenshaltungskosten deutlich unter denen Deutschlands liegen. Ein Land mit weiten, unberührten Wiesen und tropischem Klima. Ein Land aber auch, das zu den ärmsten Südamerikas zählt, knapp 40 Prozent der Bürger leben unterhalb der Armutsgrenze, Korruption ist ein ernsthaftes Problem im Land. Etwa sieben Prozent der Menschen in Paraguay haben deutsche Wurzeln. Erste Kolonien entstanden im 19. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das Land dann als Zufluchtsort für Nazis, die der Strafverfolgung entgehen wollten, unter anderem Josef Mengele. In den vergangenen Jahren entstanden einige neue Kolonien deutscher Siedlerinnen und Siedler. Einige davon zählen zum rechtsesoterischen Spektrum.

Auch Tansania in Ostafrika gehörte zwischenzeitlich zu den Anlaufstellen für Corona-Auswanderer. Eine der Galionsfiguren der Szene, der HNO-Arzt Bodo Schiffmann, hatte sich dorthin abgesetzt, nachdem in Deutschland ein Verfahren wegen Volksverhetzung gegen ihn begann.

Clara Meissners Stimme klingt hell und klar, sie spricht sehr schnell. In Deutschland ist es 18 Uhr, in Paraguay früher Nachmittag. Wir telefonieren über Telegram. In ihrem Profil steht "Liebe und Dankbarkeit". Was führt Menschen zu dem radikalen Schritt, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen?

Meissner spricht von den Maßnahmen in Deutschland, die sie diktatorisch nennt. Und doch merkt man schnell: Die Gründe reichen tiefer. "Wir sind schon lange unzufrieden gewesen", sagt sie. "Es passte einfach nicht mehr. Deutschland war nicht mehr so wie früher."

Da waren die finanziellen Aspekte: die hohen Steuern, die gestiegenen Krankenkassenbeiträge. Da waren aber auch die gesellschaftlichen Verwerfungen, wie Meissner sagt. Sie zählt all die Dinge auf, die ihrer Meinung nach schieflaufen in Deutschland: das Misstrauen in die Homöopathie, die unterbezahlten Hebammen, die maroden Schulen. Dann erzählt sie von einer Familie syrischer Geflüchteter, die 2015 in ihr Mehrfamilienhaus zogen, von den Gerüchen, wenn sie kochten, von der Lautstärke, wenn sie sich im Treppenhaus unterhielten. "Ich habe nichts gegen Ausländer", sagt Meissner. "Aber man hat sich nicht mehr zu Hause gefühlt in seinem Land."

Ein Geschäftspartner erzählte ihr schließlich von einer angeblich existierenden Verschwörung mit dem Ziel, die deutsche Bevölkerung um zwei Drittel zu dezimieren. Anfangs, sagt Meissner, habe sie das für Spinnerei gehalten. "Aber je mehr man darüber gelesen hat, desto sinnvoller erschien es." Meissner ist inzwischen von dem Verschwörungsglauben überzeugt, dass die meisten Menschen, die geimpft sind, sterben werden und nur die Ungeimpften überleben. Als Strippenzieher dahinter vermutet sie "die Freimaurer".

Verschiedene Umfragen gehen davon aus, dass rund ein Drittel der Deutschen offen für Verschwörungsglauben ist. Tobias Meilicke, Leiter der Berliner Beratungsstelle veritas, sagt, alle Gesellschaftsschichten seien betroffen. Besonders häufig seien es Menschen zwischen 30 und 50, weil die meist aus mehreren Gründen unter der Corona-Pandemie litten. "Neben Ängsten um den Arbeitsplatz kommen bei ihnen noch Sorgen um die Kinder, die Belastungen des Homeschoolings und Sorge um die besonders gefährdete Elterngeneration hinzu", sagt er. "Da entsteht enormer Druck."

In Clara Meissners Erzählung bleibt unklar, was den Ausschlag gab, tatsächlich auszuwandern. Und auch, wie ernsthaft sie über das Ziel nachgedacht hat. Just in dem Moment, in dem sie entschieden hatten, Deutschland zu verlassen, sagt sie, habe ein Bekannter ihnen von Paraguay erzählt. "Ich glaube nicht an Zufälle", sagt Meissner. Also wurde es Paraguay.

Bei Viola Neumann, der Frau, die kurz vor der Abreise steht, klingt das anders. "Wir sind keine Corona-Leugner, Querdenker oder Rechte", sagt sie. Auch ein Telefonat über Telegram. Sie wirkt wie eine überlegte Frau, spricht ruhig. Neumann lebt in einer Einfamilienhaussiedlung. Sie arbeitet als Finanz- und Unternehmensberaterin, der Vater ihrer Kinder ist IT-Fachmann. Sie leben getrennt, kümmern sich aber beide um die Kinder.

Auch für ihre Familie wird es der erste Aufenthalt in Südamerika. Doch Neumann sagt, sie hätten ausführlich über das Reiseziel diskutiert. In welche Länder kann man problemlos einreisen? Wo kommt man leicht an den Aufenthaltstitel? Welche Sprache sprechen sie, welche trauen sie sich zu, zu lernen? All diese Faktoren hätten eine Rolle gespielt. Neumann habe Spanisch im Abitur gehabt, erzählt sie. Der ältere Sohn Max lerne es zurzeit auf dem Internat in Österreich. Der jüngere zu Hause, drei bis fünf Lektionen am Tag. Neumann und der Vater ihrer Kinder wollen online weiter in ihren Berufen arbeiten.

Sie und ihre Familie seien keine grundsätzlichen Impfgegner, sagt Neumann. Sie seien gegen alles geimpft, gegen das man in Deutschland eben geimpft sei. Nur bei Corona sei sie skeptisch. Neumann findet, die Impfstoffe seien zu neu. Vor einem halben Jahr hätte ihr 16-jähriger Sohn noch den Impfstoff von Moderna bekommen können, heute wird der nur noch an über 30-Jährige verimpft. "Das verunsichert mich natürlich", sagt Neumann. "Woher weiß ich, ob man bei anderen Impfstoffen später nicht auch Nebenwirkungen findet?" Also entscheidet sie sich gegen eine Impfung für ihren Sohn und für sich selbst.

Doch wenn in Österreich ab 1. Februar die generelle Impfpflicht gilt, fürchtet Neumann, werde wohl Max der Zutritt zu seinem Leistungssportinternat verwehrt werden. Er ist Eishockeyspieler. Mit elf fing er an zu trainieren, die Wochenenden verbringt die Familie am Spielfeldrand, die Ferien in Trainingscamps, im Sommer letzten Jahres schafft er es auf das Internat in Österreich. Der Sport, sagt seine Mutter, ist für ihren Sohn und die Familie "ein Stück Lebenseinstellung und Alltag".

Doch auch bei ihr, so wirkt es, sind die Corona-Maßnahmen nicht der einzige Grund für ihren Schritt. Schon früher, mit Anfang 20, sie war mit ihrem ersten Sohn schwanger, habe sie darüber nachgedacht, auszuwandern, sagt Neumann. Kanada habe sie fasziniert. Die Natur, die Sportmöglichkeiten: Skifahren, Schlittschuhlaufen, im Meer baden. "Aber dann bekommt man Kinder, wächst da rein, passt sich an", sagt sie. Den "gesellschaftlich anerkannten Weg", nennt sie das: Schule, Arbeit, Mitglied in einem Verein sein, in den Urlaub fahren. "Dabei gibt es auch alternative Lebensmodelle, die ihren Reiz haben." Die Pandemie und alle damit verbundenen Einschränkungen haben ihren früheren Wunsch also nur wieder geweckt.

Was sie an Deutschland nerve, sagt Neumann, sei diese Überkorrektheit, dieses Gepoche auf Regeln, diesen Umgang miteinander, den sie "oberflächliches Scheinwaren" nennt. Und die Anonymität, auch bei sich in der Siedlung.

Zugleich ist da ihre Enttäuschung in das, was sie "Schulmedizin" nennt. Ihr Sohn Max habe verschiedene Lungenvorerkrankungen, sagt Neumann. Dokumente, die der Redaktion vorliegen, belegen das. Vor drei Jahren wurde er an der Niere operiert. Neumann bezeichnet die Krankengeschichte ihres Sohnes als "Abfolge von Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen". Überprüfen lässt sich das nicht. Doch klar wird: Vom Gesundheitssystem ist Neumann enttäuscht.

Dass die medizinische Versorgung in Paraguay nicht dem Stand in Deutschland entspricht, stört sie daher nicht. Im Gegenteil. In Paraguay sei man auch für alternative Wege offen, sagt sie. Dort setzten viele Menschen auch auf Naturheilkunde und Homöopathie, sagt Neumann.

Wo in Paraguay sie dann leben werden? "Ich kann mir vieles vorstellen", sagt Neumann. Leben unter Einheimischen, in internationalen gated communities, in einer Kleinstadt, ganz auf dem Land. "Wir werden durchs Land fahren und uns verschiedene Optionen ansehen", sagt sie. "Der Rest wird sich zeigen."

Clara Meissner, die schon in Paraguay lebt, sagt, es gehe ihnen gut in ihrem neuen Leben. Sie und ihr Mann arbeiteten weiter in ihren Jobs als Vermögensberater, diesmal eben online. Der Sohn gehe auf eine Privatschule. Zurzeit wohnen sie in einem Airbnb-Apartment in der Hauptstadt Asunción, ab Januar wollen sie eine feste Wohnung mieten.

Wenn Meissner von ihrer neuen Heimat erzählt, klingt sie zunächst euphorisch. Die Menschen seien aufgeschlossen und freundlich, das Land für sie als Deutsche unglaublich günstig. Die Sieben-Tage-Inzidenz sei niedrig, Corona-Maßnahmen existierten zwar, würden aber kaum durchgesetzt. Die Menschen gingen unbekümmert ins Restaurant oder Kino; lebten, wie sie es vor Corona taten: frei.

Doch je länger sie spricht, desto häufiger mischen sich kleine Enttäuschungen in ihre Geschichten. Wenn sie davon erzählt, wie schwer es sei, ein Bankkonto zu eröffnen, beispielsweise. Oder wie selten man mit Visa zahlen kann. Dass es in Asunción nicht gerade sauber ist. Der Verkehr die reinste Hölle sei. Und dann erzählt sie von einer paraguayischen Familie, bei der sie kürzlich zu Gast waren. Der Mann Richter, seine Frau Angestellte. Unheimlich herzliche Leute, sagt sie. Aber die Wohnung habe sie irritiert. "Die Türen waren kaputt, der Bodenbelag extrem billig." Dabei habe die Familie zu den Besserverdienenden im Land gehört. "Da denkt man schon: 'So möchte ich nicht leben.'"

Und dann ist da noch die Sache mit der Reinigungskraft. Vorgestern sei sie trotz Verabredung nicht gekommen, gestern nicht, wer wisse, ob sie morgen komme. "Für uns, die wir so strukturiert sind, ist das schon schwierig", sagt Meissner. "Da muss man sich erst dran gewöhnen."

Die Meissners wollen in der Hauptstadt bleiben, schon aufgrund der stabilen Strom- und Internetverbindung, die bräuchten sie und ihr Mann für die Arbeit. Einzig wenn es zu einer Impfpflicht in Paraguay kommen sollte, würden auch sie ins Landesinnere ziehen. "Denn dort kann man das definitiv nicht durchsetzen."

Wenn es ihnen in Paraguay doch nicht gefalle, das Heimweh zu groß werde, könne sie sich auch vorstellen, nach Deutschland zurückzugehen, sagt Meissner. "Denn eigentlich lieben wir ja unser Land."

Für Viola Neumann, die kurz vor der Abreise steht, ist Heimkehr hingegen keine Option. "Ich sehe nicht, dass sich in Deutschland in den kommenden Monaten oder Jahren etwas ändern wird", sagt sie, "zumindest nicht grundsätzlich." Sollte eine Impfpflicht in Paraguay kommen, würde auch sie ins Landesinnere gehen. Würde Kartoffeln anbauen, Gurken, Tomaten. Autark leben, nennt sie das. "Wir brauchen nicht viel", sagt sie.


*Namen geändert

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