Abdul Adhim Kamouss will muslimische Jugendliche vor der Radikalisierung bewahren. Heute drohen ihm Fundamentalisten den Tod an, früher predigte er selbst wie einer.
Das Video zeigt einen Mann, der sich in Rage redet: Gerade hat Abdul Adhim Kamouss – schwarzer Fusselbart, weißer Turban – die Versuchungen der westlichen Welt verteufelt; von Jugendlichen gesprochen, die in die Kriminalität abrutschen, den Drogen verfallen. Jetzt beschwört er ihre einzige mögliche Rettung: den Islam.
"Derjenige, der Allah nicht gedenkt, ist tot, auch wenn er atmet", schreit der Prediger und zieht die Augenbrauen bedrohlich zusammen. "Derjenige, der Allah gedenkt aber, ist lebendig, auch wenn er stirbt."
Der Verfassungsschutz hat damals noch ganz andere Namen für ihn. Der Prediger gilt als "Durchlaufstation" zum Extremismus. Formal sei er zwar gegen Gewalt, heißt es, als Vertreter des politischen Salafismus zähle er dennoch zu den "Radikalisierern". Der ultrakonservative Salafismus zählt schon damals zu den am stärksten wachsenden Strömungen des Islams. Und Kamouss zu den absoluten Stars der Szene.
Man muss sich das ins Gedächtnis rufen, wenn man denselben
Mann mehr als ein Jahrzehnt später auf einer anderen Bühne stehen sieht. Es ist
ein warmer Junitag 2018, statt Gebetsmantel und Turban trägt Kamouss grauen
Anzug und weißes Hemd. Statt in der vom Verfassungsschutz beobachteten
Al-Nur-Moschee spricht er nun in einem christlichen Gotteshaus, der
Baptistenkirche Wedding.
Ein Angebot der Muslime an die Gesellschaft
Es ist sein großer Tag. Etwa 200 Gäste sind gekommen; Scheinwerfer tauchen die Bühne in warmes Licht. Ein Breakdancer ist gerade über das Parkett gewirbelt, gleich wird Kamouss seinen Mitgesellschafter vorstellen, den Fußballer Änis Ben-Hatira.
Kamouss hat an diesem Abend in die Kirche geladen, um sein neues Projekt zu präsentieren: die Stiftung Islam in Deutschland, er hat sie gerade erst gegründet. Ein ambitioniertes Vorhaben: Eine Deradikalisierungsstelle ist geplant, Pfadfindercamps, eine eigene Moschee. Unterstützt wird er von einem Team von 60 Leuten.
Kamouss spricht viel von Toleranz an diesem Abend. Von Brücken zur Mehrheitsgesellschaft, die er bauen will. Seine Stiftung sei ein Angebot der Muslime an die Gesellschaft, sagt er. Eine ausgestreckte Hand. Vom Allgemeinheitsanspruch des Islams – keine Rede mehr.
Mehr als zehn Jahre liegen zwischen beiden Auftritten. Eine
Zeit, in der einige von Kamouss' Schülern in den bewaffneten Dschihad ziehen.
In der er mit seinem Auftritt bei Günther Jauch als "Quassel-Imam"
bekannt wird. Eine Zeit aber auch, in der er beginnt, sich von alten Ansichten
zu distanzieren. Er diskutiert in interreligiösen Dialogrunden, organisiert
Aktionswochen gegen islamistische Gewalt – und wird dafür von Fundamentalisten mit
dem Tod bedroht. Am Ende dieser zehn Jahre wird die Extremismusforscherin
Claudia Dantschke über ihn sagen, er sei eine "Leitfigur für alle, die
eine friedliche und integrative Form suchen, den Islam zu leben." Wer ist
dieser Mann? Und was steckt hinter seinem Wandel?
Seine Schüler zogen in den Dschihad
Die Baptistenkirche, ein paar Tage später. Kamouss' Gemeinde hat noch kein eigenes Gebäude, in der Zwischenzeit kann sie tageweise die Kirche nutzen. Es ist 21:30 Uhr, Zeit für das Abendgebet. Etwa hundert Männer haben sich in zwei Reihen aufgestellt, den Blick zur Wand, nach Mekka. Neben ihnen, auf einem Podest, 20 Frauen, Kopftücher bedecken ihr Haar. Kamouss tritt vor die erste Männerreihe.
In seiner Predigt preist er die Vorzüge der Demokratie. "Kennt ihr das?", fragt Kamouss seine Schüler. "Ihr hört jemandem zu und denkt: 'Er hat Recht.' Und dann hört ihr jemand anderem zu und denkt: 'Der hat aber auch Recht.' Ist das nicht toll? Dieser Austausch?"
Inzwischen ist Kamouss 41. Den Bart hat er gestutzt, erste Falten ziehen sich über die Stirn. Er redet immer noch schnell, gestikuliert mit den Armen. Das Theatralische aber, das Mystisch-Dunkle, ist aus seinen Predigten gewichen.
Seiner Autorität hat das keinen Abbruch getan. Wer Kamouss
länger begleitet, wer sieht, wie er Aufgaben an sein Team delegiert, der erlebt
einen freundlichen, zugewandten Mann. Einen, der gar nicht laut werden muss, um
zu bekommen, was er will. Vielleicht, weil er es gewohnt ist, im Mittelpunkt zu
stehen. Die Bühne und die Religion, sie wurden schon früh Konstanten in seinem
Leben.
Das Leben eines Kinderstars
Kamouss wird 1977 in Rabat, der Hauptstadt Marokkos, geboren. Der Vater, Betreiber eines mobilen Rummelplatzes, zieht mit Autoscootern und Kettenkarussells durchs Land, ist selten zu Haus. Statt seiner kümmert sich der große Bruder um Kamouss.
Er ist es auch, der Kamouss zum Islam führt; zur Tablighi Jamaat, einer muslimischen Missionsbewegung. Kamouss lernt, den Koran zu rezitieren; macht bei Wettbewerben den ersten oder zweiten Platz; mit sechs hält er erste Predigten. Es wird seine neue Welt.
Kamouss ist keine zwölf, als er im marokkanischen Fernsehen über islamische Ethik referiert. TV-Produzenten entdecken ihn, in einer Soap Opera spielt er den Sohn des Protagonisten. Eine Zeit lang führt er das Leben eines Kinderstars: wird mit einem Wagen von der Schule abgeholt, ans Set gebracht, verbringt die Drehpausen mit bekannten Schauspielern.
Mit 19 zieht er nach Deutschland, erst nach Leipzig, dann
nach Berlin. Studiert Elektrotechnik an der Technischen Universität, forscht am
Fraunhofer-Institut, arbeitet als Ingenieur. Mit 24 beginnt er als
ehrenamtlicher Prediger in der Al-Nur-Moschee.
"Und die Zuhörer hatten Angst davor"
Die Islamwissenschaftlerin Julia Gerlach hat Kamouss in dieser Zeit in der Moschee erlebt. Sie beschreibt ihn als charismatischen Mann mit großer Wirkung, auch auf Frauen. In seinen Predigten sei es viel um die Hölle gegangen, sagt sie, um die Dinge, die einem drohen, wenn man sich nicht an religiöse Regeln hält. "Und die Zuhörer hatten Angst davor."
Doch dabei bleibt es nicht: 2009 zieht eine Gruppe aus dem Umfeld der Moschee in den bewaffneten Dschihad nach Pakistan, später gehen einige von Kamouss' Schülern nach Syrien. Es ist der wunde Punkt in seiner Biografie. Spricht man ihn darauf an, muss er erst einmal schlucken. Er ist es leid, sich ständig zu distanzieren.
Kamouss weiß, wie die Gesellschaft ihn sieht. Er weiß, was
sie an seinem Wandel fasziniert; nicht umsonst schreibt er ein Buch darüber.
Die Rolle des sündigen Büßers aber spielt er nur bis zu einem gewissen Punkt.
Bei Jauch habe man ihn als Salafisten gecastet und vorgeführt – dabei hatte er
sich da längst gewandelt. Überhaupt hätten die Medien vieles falsch
dargestellt.
"Nie den Hass gepredigt"
Und doch, von anderen Szenegrößen unterscheidet ihn die Einsicht. Er habe zwar nie Hass gepredigt, sagt Kamouss, dafür aber zu viel Wert auf die Ausübung der Religion gelegt – und darüber den Alltag seiner Schüler vergessen. Sein Islamverständnis sei zu theoretisch gewesen, sagt er, das habe die Radikalisierung "indirekt begünstigt".
Man könnte auch sagen: Er hatte seinen Schülern das selbstständige Denken ausgetrieben. Und dann kamen andere, radikalere Kräfte und übernahmen.
So wie bei Denis Cuspert, auch bekannt als "Deso
Dogg". Als der in der Moschee auftauchte, war er ein geläuterter
Kleinkrimineller. Ein ehemaliger Rapper, der den Durchbruch nicht geschafft
hatte und Hip-Hop nun für haram, verboten, erklärte. Auch Cuspert besuchte
Kamouss' Stunden, zog dann aber weiter in die deutlich radikalere
as-Sahaba-Moschee, bevor er sich der offen dschihadistischen Millatu-Ibrahim-Bewegung
anschloss. Später ging er nach Syrien, wo er zum bekanntesten Deutschen in den
Reihen des "Islamischen Staats" aufstieg.
Offen und gesprächsbereit
Ein Mann, der nichts Böses plant, aus dessen Reihen aber Schüler in den bewaffneten Dschihad ziehen? Wie konnte es soweit kommen? Kamouss sagt, er wusste es nicht besser. "Ich lebte in einem Zelt. Erst als ich herauskam, erkannte ich, dass es nicht die Welt war." Es habe keine Ideologie dahinter gestanden.
Jochen Müller, Geschäftsführer von ufuq, teilt diese Einschätzung. Müllers Verein produziert unter anderem Unterrichtsmaterialien zum Thema Islamismus. In einem älteren Lehrvideo griff man eine von Kamouss' Predigten noch als warnendes Beispiel für den Salafismus auf; in diesem Jahr erscheint wieder ein Video mit ihm; diesmal geht es um seinen Wandel. Er habe Kamouss schon früher als offen und gesprächsbereit erlebt, sagt Müller. Als jemanden, der sein eigenes Islamverständnis vertritt – sich der Tragweite dessen aber vielleicht nicht ganz bewusst ist.
Kamouss selbst sagt, er müsse sorgfältiger mit seinen Worten
umgehen, das sei ihm heute klar. Früher habe ihm dieses Wissen gefehlt. Es ist
eine der Einsichten seines Wandels.
Die Selbstkritik entdeckt
Man kann diesen Wandel nachverfolgen, wenn man sich durch seine Videos klickt. Von religiösen Pflichten ist in den ersten die Rede, von "Ungläubigen" und dem Übel der westlichen Welt. Man sieht Kamouss darin mit den Armen fuchtelnd in der Al-Nur-Moschee stehen. Mit einer Zornesfalte im Gesicht und einem Grinsen.
Ein anderer Kamouss präsentiert sich in einem Video vom März 2016. Nachdenklich, stockend, der Blick verliert sich immer wieder im Nichts. "Wenn ich etwas durch meinen Wandel gelernt habe", sagt er, "dann, dass ich Kritik mag." Und dann, fast ungläubig, schiebt er hinterher: "Auch Selbstkritik." Eine halbe Stunde dauert der Film, der wirkt wie ein öffentlich geführtes Selbstgespräch. Kamouss entschuldigt sich darin für seine Emotionalität und den Allgemeinheitsanspruch seiner Predigten.
Ein weiteres Video, aufgenommen wenig später, zeigt Kamouss
in der Berliner Al-Iman-Moschee; vor ihm etwa zwanzig Männer. "Wer von
euch ist Sunnit?", fragt er ins Publikum; die Hälfte der Männer hebt die
Hand. Und Schiit? Die andere Hälfte meldet sich. "Wir wollen nicht, dass
man die Krise des Nahen Ostens hierher bringt", sagt Kamouss über den
Konflikt beider Glaubensrichtungen, der immer wieder zu Kriegen geführt hat.
Und fordert die jungen Männer auf, sich zu umarmen. Für viele eine kleine
Sensation.
Für manche ein Verräter
Der Wandel des Abdul Adhim Kamouss war ein Prozess. Und doch gab es bestimmte Schlüsselmomente, die ihn vorantrieben.
Da war das Treffen bei Ehrhart Körting, 2010. Der damalige Berliner Innensenator hatte zehn Imame, darunter Kamouss, in sein Büro geladen, um mit ihnen über Gewaltprävention zu sprechen. Kamouss fühlte sich erstmals von der Politik ernst genommen; mehr noch, er konnte jetzt die Sorge des Senators um die innere Sicherheit verstehen. "An seiner Stelle hätte ich einige Moscheen schließen lassen", sagt er. "Aber er hat das nicht getan. Da habe ich gedacht: Er ist viel toleranter als ich."
Da waren aber auch die Schüler, die sich von ihm abgewandt
hatten. Kamouss war zwar konservativ, aber es gab Dinge, die gingen ihm zu weit;
Gesichtsschleier zum Beispiel. Für einige Schüler machte ihn das zu einem
Verräter. Das habe ihn getroffen, sagt Kamouss. Und er begann, sich in seinen
Predigten weniger mit der religiösen Theorie, mehr mit der Praxis, dem
Charakter des Menschen, zu befassen.
Auf der Todesliste des IS
All das hatte Folgen. Die Al-Nur-Moschee trennte sich nach seinem Jauch-Auftritt von ihm, die Al-Iman-Moschee setzte ihn nach seinem Sunniten-Schiiten-Vortrag ebenfalls vor die Tür, sagt er. Es gibt Prediger, die heute vor ihm warnen. Bärtige Männer in langen Roben, die ihre Predigten teils über YouTube und Facebook verbreiten. Für sie ist Kamouss ein Fehlgeleiteter, ein Abtrünniger.
Doch es blieb nicht bei Warnungen. Kamouss spricht selten darüber, aber die Gefahr ist durchaus real. Schon in der Al-Nur-Moschee habe er Morddrohungen Rechtsextremer erhalten. Nach seinem Wandel wurde er dann vor allem von anderer Seite bedroht. Da waren die fünf Männer aus der Fussilet-Moschee, in der auch der Attentäter Anis Amri verkehrte, die ihn auf offener Straße schlugen. Da war der Tag, als ihn die Polizei aufs Revier bat, um ihn zu warnen: Er stand auf einer Todesliste des IS.
Da war vor allem diese Nacht im Frühjahr 2017. Seine Kinder
und seine Frau schliefen schon. Kamouss lag im Bett, Kopfhörer in den Ohren,
als er ein Piepen hörte. Ein Wecker, dachte er. Und merkte erst, als er die
Stöpsel aus den Ohren zog, dass das Geräusch viel lauter war. Der Feuermelder.
Als er die Tür aufriss, schlug ihm eine schwarze Rauchwolke entgegen; Jemand
hatte den Kinderwagen angezündet. Kamouss, seine Frau und Kinder hechteten
durch die Flammen; mussten mit Brandvergiftungen ins Krankenhaus.
Vertrauen in den Verfassungsschutz
Ob er in diesen Momenten ans Aufhören gedacht habe? Nicht wirklich, er fühle sich in Deutschland sicher, sagt Kamouss. Und dass er dem Verfassungsschutz vertraue. Was nicht frei von Ironie ist: Vor acht Jahren wurde er noch selbst im Bericht der Behörde erwähnt.
Warum zieht dieser Mann so viel Hass auf sich, wofür steht er? In den Grundsätzen bekennt sich seine Stiftung zum Grundgesetz und zur Gleichberechtigung, sie distanziert sich von Antisemitismus, Homophobie, extremistischer Gewalt und strebt die Zusammenarbeit mit anderen Weltanschauungen an. Aspekte, die an die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee der Frauenrechtlerin Seyran Ateş erinnern; auch sie wird mit dem Tod bedroht. Und doch gibt es Unterschiede.
In den Statuten von Kamouss' Stiftung ist von einem
Islamverständnis "jenseits starrer, wortgetreuer Lesart und religiöser
Beliebigkeit" die Rede. Ein Verständnis – so lässt sich das auslegen –
zwischen den dogmatischen Auffassungen der Salafisten auf der einen, und einer
– aus Sicht der Stiftung – zu liberalen Ausrichtung, wie sie Ateş' Moschee
vertritt, auf der anderen Seite.
"Es darf keinen Zwang geben im Islam"
Kamouss' Islamverständnis erschließt sich nicht sofort. Es ist offen, tolerant, im Kern aber doch traditionell. Etwa wenn es um das Kopftuch geht. "Ein Kopftuch zu tragen", sagt er, "ist für eine Frau religiöse Pflicht." Dann aber wendet er ein, dass es auch in Ordnung sei, wenn sie darauf verzichte – sei es aus Angst vor Gewalt oder aus persönlichen Gründen. Das Tuch sei kein Gradmesser dafür, ob eine Frau eine gute Muslimin sei. Schließlich gebe es Frauen, die es aus Tradition oder des familiären Drucks wegen tragen würden – ohne wirklich dahinter zu stehen. Und dann sagt er den Satz, der oft fällt in seinen Predigten: "Es darf keinen Zwang geben im Islam."
Die meisten Aktivitäten seiner Stiftung, auch das stellt Kamouss klar, hätten nichts mit Religion zu tun. Es gehe nicht ums Missionieren, sondern darum, sich als Muslime gesellschaftlich zu engagieren. Die Resonanz fällt bisher allerdings verhalten aus. Die Gemeinde wächst zwar, bis zu 150 Menschen kommen Kamouss zufolge inzwischen zu den Freitagsgebeten; das große mediale Echo aber blieb aus.
Mehr Aufmerksamkeit kam von anderer Seite: Drei Wochen nach der Feier in der Kirche habe ihn ein Beamter des Landeskriminalamtes angerufen, sagt Kamouss. Man müsse ihn warnen: Mitarbeiter hätten Chats von IS-Sympathisanten mitgelesen. Darin werde dazu aufgerufen, ihn zu töten.
Je mehr er sich dem Frieden nähert, scheint es, desto schwerer wird es, dem Hass zu entfliehen.
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