Gaffer attackieren Rettungskräfte nach einem tödliche Unfall in Bremervörde.
Bei einem Unfall ist schnelle Hilfe das oberste Gebot. Schon früher haben voyeuristische Autofahrer die Retter dabei behindert. Doch im Smartphone-Zeitalter hat das Gaffen eine ganz neue Qualität erreicht. Mehr noch: Inzwischen richten sich Schaulustige offen gegen Helfer. Ein Verkehrspsychologe erklärt das Phänomen - und wie Gaffer ticken.
Gaffer blockieren Rettungsgassen, machen Aufnahmen von Unfallorten und behindern Helfer bei deren Arbeit. Im Smartphone-Zeitalter scheinen Schaulustige keine Grenzen mehr zu kennen. Ein Verkehrspsychologe erklärt die neue Lust am Gaffen.
Der Mensch ist von Natur aus neugierig, es ist also zu erwarten, dass ihn außergewöhnliche Situationen interessieren und anziehen.
Er verfügt aber auch über Vernunft und hat Verantwortung und die sollte ihm sagen, wann aus verständlichem Interesse behinderndes Gaffen wird, das bei Verkehrsunfällen nicht angebracht ist.
Es ist jedem klar, dass dadurch zum Beispiel der Einsatz der professionellen Helfer behindert wird und man vom Zeugen eines Geschehens zum Schaulustigen mutiert.
Hat das Phänomen insgesamt eine neue Qualität erfahren? Und wenn ja, warum?Dafür spricht einiges. Es gibt die Tendenz, alle möglichen Vorkommnisse als "Events" aufzufassen, sie im Bild festzuhalten und womöglich in sozialen Netzen zu posten.
Und natürlich bieten die Handys heutzutage mit ihrer Videofunktionen dafür auch Möglichkeiten, die es früher so nicht gegeben hat.
Es ist ein unschönes Phänomen, dass es vielen wichtiger zu sein scheint, damit zu prahlen, was sie erlebt haben als dass sie selbst Hilfestellung leistet.
Ob und ab wann sich beim Einzelnen ein Unrechtsbewusstsein einstellt, ist situativ und individuell sehr verschieden. Da spielen auch Gruppenphänomene eine wichtige Rolle.
Psychologisch gesehen kann Gaffen auch ein Nachahmungsverhalten sein. Im Prinzip versteckt sich damit auch jeder Gaffer hinter den anderen und schiebt Verantwortung von sich ab.
Bedrohung wird nur empfunden, wenn die eigene körperliche Unversehrtheit in Gefahr ist. Sind andere das Opfer sollte eher von Hilflosigkeit oder Verantwortungslosigkeit gesprochen werden.
Alle Verkehrsteilnehmer sollten sich fragen: Kann ich Hilfe leisten, sofern Hilfe gebraucht wird. Helfen bedeutet nicht nur die medizinische Versorgung, sondern auch das Absichern der Unfallstelle, das Herbeirufen von Hilfe und das Beruhigen von Unfallbeteiligten.
Genauso wichtig ist es natürlich, die Hilfe durch Profis nicht behindern, Rettungswege beispielsweise frei zu halten. Während man Unsicherheit und Hilflosigkeit noch verstehen kann, darf Behinderung als verantwortungsloses Verhalten nicht einfach hingenommen werden.
Wenn sich der unverantwortliche Behinderer in seiner Sensationslust durch die Rettungskräfte auch noch selbst behindert fühlt, liegt ein ungewöhnlich hohes Maß an egozentrischer Einengung der Situationswahrnehmung vor.
Verständnis kann man hierfür nicht mehr aufbringen. Werden Rettungskräfte durch nötigendes Verhalten aktiv behindert, kann das übrigens auch strafrechtliche Konsequenzen haben.
Grundsätzlich verhalten sich Rettungskräfte ja professionell und ruhig, was der emotional aufgeladenen Situation bei einem Unfallszenario auch angemessen ist.
Behindernden Personen gegenüber sollten sie möglichst eine souveräne Autorität ausstrahlen, die unmissverständlich zum Ausdruck bringt, wer in dieser Situation das "Alpha-Tier" ist. Dann ist es hoffentlich nicht erforderlich, die Polizei einzuschalten, um Hilfe leisten zu können.
Das Thema "Gaffer" wird in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion eigentlich ausreichend beleuchtet und durchweg negativ bewertet.
Auch in der öffentlichen Berichterstattung sollte auf solches Bildmaterial verzichtet werden, um die Sensationslust nicht weiter zu befeuern.
Für Unfallopfer wird die ohnehin schwere Situation durch Gaffer psychisch noch belastender. Ist Gaffen mit einer Behinderung der Einsatzkräfte verbunden - dann entsteht auch noch tatsächlicher Schaden.
Die mit dem Gaffen zum Ausdruck kommende Respektlosigkeit gegenüber hilflosen und verängstigten Unfallopfern stellt aber oft die größere Belastung für die Betroffenen dar.
Jürgen Brenner-Hartman ist fachlicher Leiter für Verkehrspsychologie und Verkehrsmedizin beim TÜV SÜD
Quelle: ADAC Thüringen-Hessen