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Bretagne: Vom Eise befreit

Bretagne, Foto: Rolf G. Wackenberg

Ein Land, das menschenscheu, düster, aufbrausend, nebelverhangen, wolkenbedeckt ist, wo das Getöse der Wellen und des Windes wohl ewig währt", vermerkte einst der 1768 im bretonischen Saint-Malo geborene Schritsteller François-René, Vicomte de Chateaubriand. Auch heute, Jahrhunderte später, lebt der Schlechtwettermythos im Nordwesten Frankreichs fort. "Il bruit", sagen die Einheimischen und meinen damit den lärmigen "crachin", den ganz speziellen bretonischen Nieselregen. Und so bleibt die Entdeckung dieses französischen Landstrichs eine Herausforderung an die Bekleidung und an die Überzeugung, die beschriebene Rauheit zu mögen.

Auf der Terrasse des "Hotel Saint Guirec" in Ploumanac'h liegen Mythos und Wahrheit zumindest an diesem Frühlingsabend weit auseinander. Im Windschatten gedeiht ein Olivenbaum, knallgelb blüht der Stechginster, und in Abwandlung von Goethes Gedicht murmeln wir die Worte "Bretagne, vom Eise befreit ..." ins Weinglas. Derweil geht die Sonne über dem Meer langsam unter und der belebende Blick des Frühlings leuchtet noch einmal die feinsandige Bucht aus. Im 7. Jahrhundert soll hier Guirec, der spätere Schutzheilige der Bretonen, aus dem Walisischen angekommen sein. Ihm zu Ehren errichtete man im 14. Jahrhundert eine Kapelle und nur wenige Schritte weiter einen Gebetsstuhl mit einer Granitstatue. Dort beteten heiratswillige Jungfrauen um einen Freier und stachen dem armen Guirec Stecknadeln in die Nase, damit er sie nicht vergesse. In der Tat sehen die steinernen Überreste des Heiligen arg ramponiert aus. Nur bei Flut, wenn der Gebetsstuhl vom Meer umspült wurde, hatte er seine Ruhe in der kleinen Bucht, die heute nach ihm benannt ist: Plage Saint-Guirec. Die gesamte 600 Kilometer lange Küste heißt in der bretonischen Sprache Cotes d'Armor (Land am Meer), ein Begriff, der auf die Kelten zurückgeht, die das Gebiet der heutigen Bretagne und Normandie als Armorica bezeichneten. Von drei Seiten stürmt die See hier auf die Küste ein, die wild und zerklüftet und überall anders aussieht.

An der rosa Granitküste liegt die Gemeinde Perros-Guirec. Der Ort Perros selbst gibt sich touristisch und modern. Seine Strände Trestrignel und Trestraou ziehen jugendliche Surfer an. Erste Ausflügler flanieren in der Nachmittagssonne und genießen die maritime Promenaden-Gastronomie. Wer es dagegen ursprünglicher mag, fährt die Küstenstraße ein Stück weiter und lässt sich in Ploumanac'h nieder. In den Sommermonaten geht es hier turbulent zu, noch aber sind viele Geschäfte geschlossen, man kann den frühlingshaften Charme des verschlafenen Kleinods genießen.

In der Bucht Saint-Guirec wechseln Felsformationen und Gesteinsbrocken in einem heillosen Durcheinander, und besonders bei Ebbe scheint es, als habe ein Riese sein steinernes Sandspielzeug achtlos verstreut liegen gelassen. Genau hier, mit Blick auf die Schlossinsel Costaérés, beginnt der "Sentier des Douaniers", der Zöllnerpfad, auf dem einst Zöllner im Kampf gegen Schmuggler patrouillierten. Heute flaniert man auf einem Rundweg entlang der Steilküste, vorbei an Leuchtturm und Hafen, dann landeinwärts und wieder zurück zur Küste unter Efeudächern, die von knorrigen Bäumen gestützt werden.

Eine Liaison zwischen Himmel und Erde bilden die kleine Stadt Morlaix und ihr Wahrzeichen, der mächtige Viadukt. Mit fast 300 Meter Länge und 60 Meter Höhe wirkt es überragend, beherrschend, und alle Blicke auf sich ziehend. Doch man sollte sich langsam nähern, am besten gegen Mittag, wenn sich die graue Vormittagstrübnis über der See lichtet und die Sonne durch die Wolkendecke bricht.

Versonnen schaukeln die Boote im Yachthafen. Die Luft ist kühl, beinahe brillant klar, man empfindet eine gleißende Helligkeit in den Farben Weiß, Blau und Grün mit einigen roten Farbtupfern von blühenden Tulpen und der Pracht rhododendronartiger Sträucher. Mittendrin der Blick auf denViadukt, wie er sich allgegenwärtig über dem Yachthafen erhebt. Erst jetzt, nach diesem kurzen Moment des Verharrens, sollte man voranschreiten, sich dem Bauwerk nähern, es besteigen, einen Blick über die Dächer werfen und das Ensemble der biederen Bürgerhäuser mit ihren vielen Seitengassen bestaunen.

Auf einem der Gebäude weht die französische Nationalflagge wie ein Farbklecks. Und immer öfter scheint die Sonne! Man glaubt gar nicht, in der Bretagne zu sein. So ist denn auch nachzulesen, dass der Golfstrom hier ein mildes Klima beschert, dass es in den Küstenregionen weniger regnet als im Landesinneren und die Stadt Brest 2010 über 1700 Sonnenstunden aufzuweisen hatte, mehr als Freiburg, eine der sonnenreichsten Städte Deutschlands. Richtig verzückt ist man vom bretonischen Frühling. Sei es in der bunten Hafenstadt Roscoff, in den einsamen Buchten um Brignogan-Plages, am westlichen Zipfel von Le Conquet, in Douarnenez, der Stadt der drei Häfen, oder in Audierne, der friedlichen Vorhut im Schatten der wilden Pointe du Raz. Allerorten lassen sich sonnige Nachmittage und Abende verbringen, bei einem Glas Weißwein und einer bretonischen Fischsuppe.

Sind die Orte der Nord- und Westküste eher versonnen und verträumt, setzt das südliche Quiberon im Département Morbihan auf ein mondänes Antlitz. Hier reihen sich Boutiquen und Brasserien, Apartmentanlagen und Hotels entlang einer schicken Promenade. Dennoch ist auch dieser Ort gerade erst am Erwachen, und die großen Bettenburgen mit ihren Panoramafenstern gen Meer schlummern frühjahrsmüde hinter geschlossenen Jalousien. "Doch im Sommer ist bei uns die Hölle los. Es gibt nur eine Zufahrtsstraße, und die ist dann ständig überfüllt", sagt Marie auf der Terrasse des "Le Vivier", einem Restaurant unweit von Quiberon mit freiem Blick auf den Sonnenuntergang. Bereits jetzt ist hier von Ruhe keine Rede mehr. Scharenweise kommen Feinschmecker und Sonnenanbeter, um bei Austern, Muscheln und Langusten das Panorama zu genießen. Marie hat alle Hände voll zu tun. Bei ihrem nächsten Halt an unserem Tisch ergänzt sie noch rasch: "Im Sommer fährt dann wieder der Bummelzug. Aber viel bringt das nicht, die Bahnstrecke ist nur eingleisig."

Quiberon liegt auf der gleichnamigen Halbinsel, die sich über eine Länge von 14 Kilometern in die See hineinwagt und an einigen Stellen so schmal ist, dass man von Wasserfläche zu Wasserfläche schauen kann. Bis zum Ort Saint-Pierre, etwa vier Kilometer landeinwärts, war dieser Flecken einst eine Insel. Etwa vom 11. Jahrhundert an wurde durch das Abholzen von Wäldern Sand freigesetzt, der durch Winde und Meeresströmung eine Landbrücke bildete. Heute fasziniert der Ort Quiberon durch ein fantastisches Panorama, durch die vielgestaltige Westküste, die verträumten Dörfer im Inneren der Halbinsel und durch das mediterrane Flair der landseitigen Ostküste mit ihren heimeligen Badebuchten. Hier kann man auch urige Sommerhäuschen mit Strandzugang mieten. All das lässt sich auf einem etwa 15 Kilometer langen Rundweg erwandern. Empfehlenswert ist es, die Wanderung über die Westküste zu beginnen, um am Nachmittag Seele und Körper bei einem Bad an der Ostküste zu kühlen.

Regelmäßig verkehren auch Boote zur südlich vorgelagerten Belle-Ile, der Königin der bretonischen Inseln, der Ort, an dem Alexandre Dumas den Musketier Portos zugrunde gehen ließ. Noch mehr Historie bietet die Gegend um Carnac, ein Muss für jeden Besucher der Megalithenküste. Nirgends auf der Welt gibt es so viele dieser steinernen Denkmäler auf derart kleinem Raum: Mehr als 3000, teilweise bis zu vier Meter hohe Steine reihen sich entlang einer Strecke von mehreren Kilometern aneinander. Erforscht wurden sie auf jede erdenkliche Weise, doch weder Wissenschaft noch Fantasie konnten bislang ihr Geheimnis enträtseln.

In Carnac, im Ortsteil Le Po, wird Austernzucht betrieben. Der Ort ist nichts für Anbeter klassischer Schönheit. Vielmehr zeugt er von bodenständiger Fischerarbeit. Da können die Kähne schon mal rostig, die Häuschen schmucklos und das Wasser ein wenig brackig aussehen. Wer einen Hang zu archaischen Szenerien hat, dem wird es hier gefallen, an einem Abend bei Sonnenuntergang mit ganz viel Land's-End-Gefühl. Gleich gegenüber der Mole befindet sich das Restaurant "La Calypso". Ein letztes Mal vorzüglich bretonisch speisen und die Reise Revue passieren lassen. Und lachen. Über die unnütze Schlechtwetterkleidung und die glücklich gebräunten Gesichter, die durchaus ein wenig mehr Sonnencreme hätten vertragen können. Beim nächsten Mal vielleicht lernt man vorher ein wenig bretonisch. "Brav eo an amzer" heißt übrigens schönes Wetter.


Text: Sarah Paulus (www.sarahpaulus.de)

Foto: Rolf G. Wackenberg (www.wackenberg.com


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