In manchen nichteuropäischen Minderheiten, in Sambia, China oder auch Mali, gibt es einzelne Praktiken, die matriarchal geprägt sind, wo zum Beispiel Kinder den Namen der Mutter bekommen oder wo Erbschaft über Frauen läuft. Das ist aber ein Tropfen auf den heißen Stein, denn durch die Globalisierung hat sich das Patriarchat weltweit verbreitet.
bento: Warum hast du ein Buch über Männlichkeit geschrieben?JJ: Ich habe lange Jugendarbeit gemacht und festgestellt, dass im Alltag für Genderthemen überhaupt kein Bewusstsein da ist. Außerdem ist es gerade für junge Menschen einfach schwierig, einen Zugang dazu finden. Was macht man zum Beispiel, wenn man gar nicht genau weiß, was "Patriarchat" ist, sich aber nicht traut, zu fragen? Für diese Menschen sollte das Buch sein. Ein persönliches und zugängliches Buch, in dem man auch Parallelen zu sich selbst entdecken kann.
bento: Dir wurde als Kind beigebracht, nicht zu weinen. Du schreibst im Buch, du hättest später lange gebraucht, das Unterdrücken von Tränen zu verlernen. Wie verlernt man denn so etwas?JJ: Um etwas wieder zu verlernen, ist es am besten, sich immer wieder selbst zu fragen: Warum handle ich gerade so, wie ich handle? Was wäre so schlimm daran, jetzt zu weinen? Es war ein langer Weg für mich, aber inzwischen weine ich wirklich ständig (lacht). Aber es gibt leider immer noch Umgebungen, in denen ein Mann, der Gefühle zeigt, nicht akzeptiert wird.
bento: Gibt es denn überhaupt Umgebungen, wo es schon komplett normal ist, dass Männer Gefühle zeigen? Wenn sich zum Beispiel zwei Männer küssen, gilt das schnell als niedlich.JJ: Das kann daran liegen, wie Emotionen gegendert sind. Wenn zum Beispiel ein sehr maskuliner schwuler Mann anfängt zu weinen, werden die Menschen sicher denken: "Oh, da muss was Schlimmes passiert sein." Wenn ein femininerer Mann weint, wird es eher niedlich gefunden, weil es ins Bild passt. Trauer gilt als weibliche Emotion.
bento: Aber auch bei heterosexuell gelesenen Menschen wird zum Beispiel Mitgefühl oder Trösten oft als niedlich empfunden.JJ: Ja, weil Männer schon lange ihre Gefühle von sich abspalten, glaubt die Gesellschaft oft, sie hätten keine. In emotionalen Situationen wissen Männer dann oft nicht, wie sie sich verhalten sollen. Und wenn dann auch nur das kleinste bisschen Mitgefühl kommt, ist das dann gleich unglaublich toll. Anstatt, dass es normalisiert wird, dass Männer empathisch reagieren. Etwas Ähnliches ist auch in Beziehungen zu beobachten, dieses: "Oh, dein Freund kocht?" Natürlich sollte er kochen können, er ist ein erwachsener Mensch und sollte sich ernähren können. Aber Männer werden für diese Fähigkeit gelobt.
bento: Dein Buch handelt viel von der Beziehung von Männern zu Frauen. Können Frauen selbst gar nichts tun, um Männern aus ihrem Verhalten herauszuhelfen?JJ: Das Problem des Patriarchats sind Männer, die durch ihr Verhalten das System aufrechterhalten. Deshalb ist es auch unsere Verantwortung, das abzubauen und Freunde, Brüder oder andere Männer in unserem Umfeld darauf anzusprechen.
Ich denke nicht, dass Frauen das auch noch machen müssen. Sie sind genug damit beschäftigt, in einem System zurechtzukommen, in dem Männer sich ihnen gegenüber gewaltvoll verhalten. Außerdem hören Männer, deren Männlichkeitsbild toxisch ist, Frauen auch oft nicht zu. Ich kann verstehen, wenn Frauen bei ihren Partnern oder Familienmitgliedern den Impuls haben, etwas zu sagen. Aber es ist auf jeden Fall nicht die Verantwortung von Frauen, dass Männer sich ändern. Sich zurückzuziehen als Frau ist auch völlig legitim.
bento: Du hast ein Kapitel deines Buchs Liebe und Sex gewidmet und wie Jungen suggeriert werde, sie müssten so früh wie möglich Sex haben. Was denkst du darüber?JJ: Ich halte das für sehr gefährlich. Viele Jungen und Männer realisieren oft nicht, dass sie sexuell misshandelt wurden. Chris Brown ist ein prominentes Beispiel. Er hat in einem Interview gesagt, er habe mit acht Jahren zum ersten Mal Sex gehabt. Er ist so zitiert und bewundert worden für die Tatsache, dass er so jung schon mit älteren Frauen Sex hatte. Dabei ist das ein Junge, der sexuelle Gewalt erfahren hat, dessen junges Alter Frauen ausgenutzt haben. Nur sieht die Gesellschaft das oft nicht so.
bento: Du schreibst auch viel über Musik, die du früher gehört hast und wie sie dein erstes Verständnis von Männlichkeit geprägt hat. Tragen Musiker*innen Verantwortung?JJ: Total. Musik kann viele Bilder und Werte verändern, die in der Gesellschaft verankert sind. Ein Mann, der mit Geldscheine protzt vor einem schicken Auto - das wird als normal und erstrebenswert präsentiert, war aber auch schon mal anders. Es gab eine Ära, in der Männer Schmerz, Trauer oder Liebeskummer durch Bluesmusik zum Ausdruck gebracht haben, Robert Cray oder B.B. King zum Beispiel. Das gibt es heute kaum noch. Heute ist die Musik von Männern oft von ihren Emotionen getrennt.
bento: Welche Rolle spielen soziale Netzwerke im Hinblick auf Feminismus und Männlichkeitsbilder?JJ: Sie haben uns Bewegungen wie #metoo gebracht, gleichzeitig aber auch gezeigt, wie verletzbar wir Männer sind, wenn es um unser Privileg geht. Oft heißt es: "Ich bin das nicht, ich würde so etwas nie machen."
bento: Sollten gerade junge Menschen, die mit Gender-Debatten aufgewachsen sind, es nicht besser wissen?JJ: Viele Jugendliche wissen jünger denn je über gesellschaftliche Probleme Bescheid, reproduzieren sie aber trotzdem. Das hat viel mit der älteren Generation zu tun. Wenn dein Lehrer oder deine Freunde sich sexistisch äußern, musst du sehr mutig sein, um bei deiner Haltung zu bleiben. Man kann von jungen Menschen nicht erwarten, die Gesellschaft zu ändern, wenn wir es schon nicht selbst hinkriegen. Wir müssen es ihnen vermitteln.