Laute Hip-Hop-Musik dröhnt aus den Boxen im Kovalam Skatepark. „Unter der Woche ist das hier ein Schulhof", erzählt Vineeth, der Skateboard-Lehrer. Es ist Sonntag, 12 Uhr mittags, und die Sonne brennt vom Himmel. Der Skatepark füllt sich schnell. Jungs jeden Alters schnappen sich einen roten Helm, ein Skateboard und tauschen ihre Flipflops gegen festes Schuhwerk. Lässig und cool lehnen sie mit den Brettern an der Wand. Vineeth begrüßt alle mit „High Five". Dann geht's los. Die Jungs stürzen sich in die Rampen. Mini (12) steht noch am Rand. Sie trägt einen gelben indischen Kamiz, eine Art Kleid, mit roter Hose. Ihren roten Helm trägt sie keck etwas seitlich auf dem Kopf.
Mini wartet noch mit konzentrierter Miene auf der Rampe. Sie lässt die Jungs erst mal fahren. Dann schwingt sie sich auf ihr Brett, macht einen Drop-in. Fährt jede Kurve, macht dabei mehrere Tailstars, in der Mitte noch einen Olli. Schließlich greift sie ihr Brett aus der Luft, lächelt verschmitzt, als sei nichts gewesen, und setzt sich an den Rand. Die Jungs beobachten sie. Es hat etwas gedauert, bis sie Mini akzeptiert hatten. Mittlerweile sind alle stolz auf sie. Mädchen haben es nicht leicht in Indien. „Oft können Mädchen in Indien nicht mit Jungs zusammen Sport treiben", erklärt Vineeth. „Entweder gibt es keine passende Kleidung, oder der Sport wird als nicht angemessen für Mädchen angesehen." Gerade in den Dörfern werden Mädchen sehr traditionell erzogen: Sie müssen gehorchen und Männer als Autoritäten ansehen. Eine Frau ohne Mann ist in der indischen Gesellschaft nicht viel wert. Deshalb versuchen Eltern, ihre Töchter möglichst schnell zu verheiraten.
Der Kovalam Skate Club„Ich habe schon immer gerne Sport gemacht", erzählt Mini beim Mittagessen. „Ich war im klassischen Tanzkurs und in der Yogaklasse." Sie besucht die SISP-Schule, die Kinder aus armen Verhältnissen unterstützt. Die Väter der Schüler sind Fischer. Von dem wenigen Geld, das sie mit dem Fischfang verdienen, kaufen sie Alkohol. Für die Familie bleibt kaum noch Geld zum Leben
übrig. Viele Kinder gehen nicht in die Schule, weil sich ihre Eltern nicht genügend um sie kümmern. „Auf den anderen Schulen war es nicht schön", sagt Mini. „Wenn man etwas falsch gemacht hat, haben die Lehrer uns mit dem Stock gehauen." Die SISP-Schule gibt den Kindern eine zweite Chance. Hier wird niemand geschlagen. Ganz im Gegenteil. 2014 baute die Schule eine Skater-Minirampe. Die Schüler waren begeistert. Jedes Wochenende durften sie in der Kovalam Skate School Skateboard fahren. Aber nur, wenn sie unter der Woche in die Schule gegangen waren. „Keine Schule - kein Skateboard" ist das Motto. Und das motiviert. Denn Skateboarden wollen die Kinder unbedingt.
Mini ist ein VorbildZuerst fuhren nur die Jungs. „Ich fand das interessant und habe irgendwann Vineeth gefragt, ob ich das mal ausprobieren darf", erzählt Mini stolz. Sie war das erste Mädchen, gerade mal zehn Jahre alt. In dem Schul-Skatepark könnnen Mädchen gut mitmachen. Die Rampen sind nicht so hoch, und es ist übersichtlich. Der Lehrer kann immer ein Auge auf sie werfen. Mini fährt jedes Wochenende. Sie wird immer besser. Mittlerweile gibt es noch ein paar andere Mädchen, die sich Mini als Vorbild genommen haben und sich trauen mitzumachen. „Es ist zu heiß", stöhnen die Skater nach der Mittagspause. Vineeth beendet heute den Unterricht früher. Es ist wirklich zu heiß. Die Kinder wohnen in den umliegenden Dörfern. Damit sie alle sicher nach Hause kommen, organisiert der Lehrer eine Rikshaw, eine Art offenes Taxi.
In Minis Dorf angekommen, führt ein schmaler Pfad durch einen Kokosnuss-Wald zu ihrem Haus. Drinnen ist es dunkel. Das Haus besteht aus drei Zimmern und einer Küche. Es gibt kaum Möbel, keine Betten und kein Wasser. Vor dem Haus ist ein kleines Loch mit dreckigem Wasser. Daneben befindet sich ein aus Wellblech und Tüchern gebautes „Bad". Hier wird mit dem Wasser aus dem kleinen Loch geduscht, das Geschirr und die Wäsche gewaschen. Eine Toilette existiert nicht. Dafür müssen sie in den Wald gehen. Die Mutter hat eine leichte Behinderung, deshalb ist die älteste Schwester Leena für die Familie verantwortlich. Der Vater hat sich eine zweite Frau genommen. Für Mini, ihre drei Schwestern und ihre Mutter ist selten Geld übrig. Leena ist schon 17 Jahre und will bald heiraten. Die Mitgift ist aber so hoch, dass sich die Familie das Geld leihen muss. Wie sie es einmal zurückzahlen sollen, wissen sie nicht. In einem der Zimmer hängt ein Bild von Jesus. Jeden Abend, bevor Mini schlafen geht, betet sie. „Ich wünsche mir, dass ich nicht heiraten muss. Ich will lieber arbeiten", flüstert Mini mit einem Augenzwinkern. Dann teilt sie sich zum Schlafen eine Bastmatte auf dem Boden mit ihrer Mutter. Morgen wird sie in den Sommerunterricht gehen, obwohl sie Ferien hat.
Text & Foto: Sandra Weller
Erschienen in : Zeit Leo, Weite Welt, Geolino, Cenage