2 abonnements et 0 abonnés
Article

Zürcher Theater zeigt „All the Sex I've ever had"

Offen erzählt: Geschichten von empfundener Lust und heimlichen Phantasien, von Verletzungen und sexueller Gewalt, von Scham und Einsamkeit

Wie sämtliche Vorführungen im Winter zuvor ist auch dieser Abend restlos ausverkauft. „All the Sex I've ever had" (nach dem Erfolgsformat aus Kanada, in Zürich dramatisch umgesetzt von Tine Milz und Eneas Nikolai Prawdzic und wegen der hohen Nachfrage erneut im Spielplan) ist mehr szenische Lesung als klassisches Theaterstück, in dem vier Darsteller über 65 ihre sexuelle Biographie schildern, „von der ersten Verliebtheit über den ersten Herzschmerz, von unerfüllten Sehnsüchten und aufregenden Affären bis hin zum Tod von Geliebten", wie es im Programm heißt.

Die Erzählung ist chronologisch und beginnt mit der Geburt der ältesten Darstellerin im Dezember 1947. Sodann durchlaufen wir Jahr für Jahr, während die vier Senioren abwechselnd persönliche Anekdoten zum Besten geben: „1953. Ich (Nicoletta) bin sechs Jahre alt und habe gerade meinen ersten Orgasmus. Meine Mutter erwischt mich dabei und wird sehr böse. Ich bekomme eine Bestrafung." - „1954. Mein Vater hatte sich eine Tochter gewünscht, die er Heidi taufen lassen wollte. Stattdessen legt ihm die Hebamme mich in die Arme. Keine Heidi." - „1968. Ich (Werner) bin 12 und entdecke ein Afrika-Fotobuch in der Bibliothek meiner Eltern. Ich bin fasziniert von den männlichen Körpern, aber ich schaue sie nur heimlich an. Mein Vater sagt, Homosexuelle seien ‚nicht normal'."

Begehren ist zeitgeistgeprägt

Durch die Aneinanderreihung solch intimer Momentaufnahmen werden die individuelle Entwicklung und die ganz persönlichen Erfahrungen von Nicoletta, Werner, Heidi und Roger erfahrbar, zum anderen zeichnet sich dabei auch etwas Übergeordnetes ab, ein gewisser Zeitgeist, der diese Körper und Begehren stets mitprägt: die repressive Stimmung der Nachkriegsjahre, die sexuelle Revolution in den späten Sechzigern, die Jahre der Ernüchterung und Pragmatisierung. Später die Digitalisierung von Sex in Form von Datingplattformen und Pornoseiten und zuletzt eine Öffnung und Ausweitung geschlechtlicher Identitäten und sexueller Orientierung.

Das Stück demonstriert so auf eindringliche Weise, was der französische Philosoph Michel Foucault in seinem vierbändigen Werk „Sexualität und Wahrheit" untersucht: die Frage danach, durch welche Kanäle und mittels welcher Diskurse die Macht bis in unsere privatesten Verhaltensweisen einsickert; wie sie unsere Lust durchdringt, formt und kontrolliert. In Nicolettas Kindheitserzählung ist es die katholische Kirche mit ihren puritanischen Sittengesetzen, die, verkörpert durch die mahnende oder besorgte Stimme der Mutter, darüber entscheidet, welches Begehren als Sünde verteufelt und welches als Liebe verklärt wird. Nicoletta heiratet dementsprechend früh und unglücklich. Erst mit weit über 30 Jahren reklamiert sie ihr Recht auf ein eigenes Begehren, das nicht nur ihrem Ehemann gehört oder der biologischen Reproduktion dient.

Foucault ist Theorie, Theater Erfahrung

Anders als Foucault geht „All the Sex I've ever had" jedoch nicht von der Theorie aus, sondern von einzelnen Menschen, die an diesem Abend zutiefst persönliche Erfahrungen teilen. Es sind Offenbarungen, in vielerlei Hinsicht: Geschichten von empfundener Lust und heimlichen Phantasien, von Verletzungen und sexueller Gewalt, von Scham und Einsamkeit, aber auch von Emanzipation und Resilienz. Das Publikum, das im Laufe des Abends nicht nur zuhört, sondern mitunter selbst Erfahrungen teilt, fiebert mit, lacht mit, weint mit.

Besonders berührend ist dabei Heidis Geschichte. Während Nicolettas Begehren tabuisiert und Werners homosexuelles Begehren (verstärkt noch ab der Aids-Epidemie in den Achtzigerjahren) pathologisiert wird, existiert für deren geschlechtliche Identität lange Zeit nicht einmal ein stigmatisierender Begriff. Weder sie selbst (damals noch ‚er') noch ihr Umfeld versteht, weshalb sie immer häufiger Suizidgedanken entwickelt - bis ihre Psychotherapeutin sie einer Spezialistin für Transgender-Menschen empfiehlt. Ihrer Familie gegenüber (inklusive ihrer bald 100 Jahre alten Mutter) outet sich Heidi, so erzählt sie, erst letztes Jahr mit 68 Jahren während einer der ersten Vorstellungen von „All the Sex I've ever had" als Transfrau, die Frauen liebt.

Viele Dinge, die Foucault theoretisch festgestellt hat, begreift man an diesem Abend ganz intuitiv: etwa, dass es nicht unerheblich ist, welche Geschichten von Sex und Sexualität wir einander erzählen und wie wir sie erzählen (in welcher Reihenfolge, mit welchen Worten und mit welcher Pointe); dass diese Narrative die Macht besitzen, Beziehungen zwischen Menschen zu ermöglichen, zu formen als auch zu verhindern; selbst die Beziehung zu sich selbst.

Und nicht zuletzt: dass es Gespräche wie diese braucht, keine Geständnisse, sondern Offenbarungen, die mit offenen Ohren und Empathie gehört werden.

Rétablir l'original