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Theaterspektakel Zürich: Der Moment, bevor er zutritt

Ein dunkler Clubraum. Auf zwei Podesten spielen zwei Männer in silbernen Uniformen Bass. Wir, das Publikum, stehen dazwischen, lassen uns anstecken von dem dumpfen, rhythmischen Geräusch. Schritt nach links, Schritt nach rechts. Irgendwo über unseren Köpfen geht ein Bildschirm an. Dann zwei weitere auf der gegenüberliegenden Seite, und noch einmal drei. Sie alle zeigen dieselbe Szene eines alten Schwarz-Weiß-Filmes: ein Mann in Uniform, der neben zwei Männern in der Hocke im linken Bildrand einen folkloristischen Tanz tanzt, sein Körper der Kamera zugewandt. Eine Aufnahme in Endlosschleife. Dann erklingt von irgendwoher eine Stimme.

Schnitt. Die Bildschirme werden schwarz, dann erscheinen helle Rauchschwaden, die sich langsam ausbreiten, bevor sie sich verflüchtigen. Behutsam folgt die Kamera dem Rauch hinunter zur Hand, die zwischen Zeigefinger und Mittelfinger eine glimmende Zigarette hält, den Daumen nach innen gebogen.

„Erkennst du die Finger?
Erkennst du die Haltung?"

Aus unserer Mitte tritt jetzt die Frau, der diese Stimme gehört.

„Ich schon
Ich erkenne seine Finger
Ich kenne sie seit 30 Jahren"

Das ist „Aphasia" von Jelena Jureša. Eine Mischung aus Konzertperformance, Clubnacht und Installation, die uns mitnimmt zu einer Nacht in einem Belgrader Club, in der eine Frau in dem DJ einen fotografisch dokumentierten Kriegsverbrecher erkennt, der auf eine Frau am Boden eintritt. Die Fotografie des amerikanischen Fotojournalisten Ron Haviv zeigt einen serbischen Soldaten von hinten, sein Stiefel in der Luft, in der linken Hand, grazil erhoben, balanciert er eine Zigarette zwischen Zeigefinger und Mittelfinger. Das Bild hält den Moment fest, kurz bevor er auf die am Boden liegende Frau eintritt.

Ewige Wiederholung

Das Foto, das als Symbol für den bosnischen Widerstand im Jugoslawienkrieg um die Welt ging, wird an diesem Abend nicht gezeigt. Stattdessen nennt Jureša den Namen des Opfers - Tifa - und führt auf eindringliche Weise vor, wie kollektives Trauma und Erinnerung funktionieren - als Leerstelle, als ewige Wiederholung. Es ist immer April 1992.

Schnitt. Eine Bühne weiter geht die brasilianische Künstlerin Renata Caravalho durch die Ränge des Zuschauerraums, hält immer wieder einzelnen Personen das Mikrofon vors Gesicht und fragt: „Was bedeutet Cis-Gender?", „Hast du transsexuelle Personen in deiner Familie? In deinem Freundeskreis?", „Hattest du schon einmal Sex mit einer Transgender-Person?". Renata Caravalho ist selbst eine Transvesti, wie sie sich nennt. Bei ihrer Geburt wurde ihr das männliche Geschlecht zugeschrieben, doch Renato, so ihr Taufname, erkannte schon früh, dass sie sich dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlte. In ihrer Performance „Manifesto Transpofágico" schildert sie, was es heißt als Transvesti in Brasilien aufzuwachsen, von der Familie verstoßen und von den Medien sexualisiert, pathologisiert und stigmatisiert zu werden. Dabei trägt sie: nichts. Oder genauer: nichts, außer einem hautfarbenen Tanga. Ihre Nacktheit ist eine Offenbarung, die uns die existenzielle Dimension dieses Transkörpers, den sie - auch wenn sie wollte - nicht abstreifen kann, deutlich vor Augen führt.

Die Inquisition, die Caravalho jetzt, im Anschluss an die Performance, durchführt, ist nicht allen im Raum geheuer. Mitunter wirkt es belehrend, wenn sie Antworten korrigiert, unangenehm zudringlich, wenn sie nach sexuellen Erfahrungen und Vorlieben fragt. Wie ihre Nacktheit ist auch die Befragung eine beabsichtigte Zumutung: Ihre letzten Worte vor Verlassen der Bühne wiederholt sie zweimal: „If I am standing here today (like this), it is to calm your Cis-Gender Eyes".

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