Zwei Reisetage trennen den angehenden Ingenieur Hans Castorp von Hamburg, „seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte". Als er das Sanatorium oberhalb des Schweizer Bergdorfs Davos im Sommer 1907 erreicht, gehört diese Welt mit einem Mal der Vergangenheit an. Die Zeit zieht sich zurück in den Moment, ist erneut ausgebreitete Gegenwart.
In Wuppertal beginnt das Stück an dieser Stelle, mit der Ankunft vor dem Sanatorium: Mit hochgezogenen Schultern blickt Hans Castorp (hier eine Frau, brillant gespielt von Rebekka Biener) in die Tiefe der nächtlichen Berglandschaft. Es schneit. Da ist ein Schauern in der Stimme, im Körper: ein Zittern oder Frösteln, das der Kälte geschuldet sein mag - auf 1600 Meter Höhe geht der Atem kurz, bei jedem Wort zieht Biener Luft ein - womöglich aber ist es dieser Ort selbst, die Erhabenheit der Landschaft, die Tiefe des Abgrunds, (die wir nicht sehen, aber körperlich nachvollziehen) und dazwischen eine Ahnung, was das Leben hier für ihn bereithalten möge, ob der Castorp erschauert.
Aus den geplanten drei Wochen werden sieben JahreIm Theater im Engelsgarten versetzen Schnee und Nebel Castorp in jene „seltsame Seinsschwebe", zersetzen in ihm den letzten Rest an Orientierung in Raum und Zeit. „All das", kommentiert Julia Wolff vom Bühnenrand aus, „ist lange her. Es gehört unwiderruflich der Vergangenheit an und ist deshalb zwingend in der Vergangenheitsform zu erzählen." Als Thomas Mann wird sie sich im Laufe des Abends immer wieder über das Stück äußern, wird Zeit und Seitenzahl nennen, metafiktionale Koordinaten, die darüber informieren, wo im 1085 Seiten langen Roman wir uns in dieser dreistündigen Vorstellung gerade befinden - uns nicht vergessen lassend, dass diese Geschichte von ihrem Ende her erzählt wird, an dem „der Große Krieg" steht.
Die Vorstellung einer objektiven Zeit, deren Messung das neunzehnte Jahrhundert perfektioniert hatte, steht dem subjektiven Zeitgefühl entgegen, für das Zeit mal schneller, mal langsamer vergeht, auf jeden Fall aber nicht linear verläuft; darauf liegt ein Fokus dieser Inszenierung. Als Castorp seinen Cousin Joachim bei der Liegekur begleitet, rotiert der Boden unter ihm. Castorps ausgestreckter Körper wird zum Zeiger einer überdimensionierten Uhr. Aus den geplanten drei Wochen werden sieben Jahre.
Lust, Liebe, Krankheit und Tod - all das hängt bei Thomas Mann aufs Engste miteinander zusammen. Im Sanatorium fühlt sich Hans Castorp seltsam angezogen von der mysteriösen, schönen, aber innerlich moribunden Russin Clawdia Chauchat. Gespielt wird sie hier von Aline Blum, einer Schauspielerin des Inklusiven Schauspielstudios, die die Bühne nie ohne lautes Türknallen verlässt. In einer Schlüsselszene des Romans, der „Bleistiftleihe", wird deutlich, woher die Anziehung rührt: Castorp erinnert sich an eine viele Jahre zurückliegende Begegnung mit Přibislav Hippe (wiederum: Aline Blum), dem Sohn des Gymnasialprofessors, mit ähnlich blaugrauen Kirgisenaugen und hoch sitzenden Wangenknochen wie Madame Chauchat.
Von Hippe leiht sich Castorp während einer Zeichenstunde einen Bleistift - natürlich ein Vorwand, um sich dem Angebeteten zu nähern. In Wuppertal wird die homoerotische Deckerinnerung der Bleistiftübergabe zwei Mal wiederholt: Einmal ist der Stift das Thermometer, das sich Castorp in den Mund steckt, um seine Krankheit festzustellen, als die zu Thomas Manns Lebzeiten auch die Homosexualität angesehen wurde, weswegen sie der Schriftsteller nur im Gewand seiner Figuren und selbst da noch verschleiert auslebte.
Gigantische TodesmaskenDie zweite Bleistiftübergabe erfolgt im Stück nach der Pause, mit Clawdia Chauchat während der „Walpurgisnacht". Das Bergpanorama im Hintergrund ist „La Danse" von Matisse gewichen - einem Reigen des Lebens und der Lust, den die Schauspieler in dieser Karnevalsnacht, sich wie die Frauenakte im Bild an den Händen haltend, kopieren. Eine weiße Skulptur, die während des ersten Teils im hinteren Bereich der Bühne gestanden hatte, steht nun im Zentrum - ein großer Körper, kopflos, amorph, androgyn. Umkreist wird er von dunklen, gigantischen (Todes-)Masken - Mahnmale der menschlichen Endlichkeit.
Wenn der vielfach aufgeführte Stoff bei Regisseur Henri Hüster und seinem Dramaturgen Christofer Schmidt eine Zuspitzung erfährt, dann findet man sie hier: in der queeren Inszenierung des Körpers. Männer werden von Frauen gespielt, Körper sind besonders groß (Mynheer Peeperkorn, Dr. Krokowski, großartig gespielt von Nora Krohm) oder besonders klein (die kleinwüchsige Saaltochter Emerentia, gespielt von Marvin Löffler), Körper „zeigen sich" in einem besonderen Gang, in einem Lispeln. Der Körper wird hier in all seiner Diversität, als Quell der Lust und des Lebens gefeiert, als Stätte der Krankheit und des Todes gefürchtet.
„Was war das Leben?" - im epischen Präteritum des Romans stellt sich Hans Castorp diese Frage sowohl aus der Mitte („Was ist das Leben?") wie auch von dem imaginierten Ende her („Was wird das Leben gewesen sein?") und stellt nüchtern fest: „Man weiß es nicht." Beantworten lässt sich die Frage nicht. Gestellt werden muss sie trotzdem immer wieder - von Wissenschaftlerinnen, Ärzten, Biologinnen und Künstlern - ein Leben lang.