Bei Sarah Kane sind die letzten Worte nicht selten die ersten. Als weiße Buchstaben flimmern sie über den schwarzen Bildschirm eines alten Fernsehers: „Du bist tot für mich", erklingt eine Stimme irgendwo zwischen Bühne und Besucherreihen. Eine andere antwortet, die Worte vom Bildschirm ablesend: „Mein letzter Wille lautet, Bau diesmal Scheiße, und ich werde dich heimsuchen für den Rest deines Scheißlebens." „Es verfolgt mich." „Was willst du?", fragt eine dritte Stimme. „Sterben."
So beginnt „Gier", dieser düstere Text, der vom Tod umklammert ist und vom Sterben handelt. Die britische Autorin Sarah Kane schreibt ihn 1998 mit gerade einmal 27 Jahren. Ein Jahr später nimmt sie sich im King's College in London das Leben. Es war nicht ihr erster Versuch.
So nackt, so verletzlichIn Kanes Text gibt es vier Stimmen, C, A, B, M, die in kurzen Sätzen miteinander, häufiger aber nach- oder aneinander vorbei sprechen. An diesem Abend werden sie von Maja Beckmann, Benjamin Lillie, Sasha Melroch und Steven Sowah vorgetragen. In Christopher Rüpings Inszenierung betritt eine fünfte Person die Bühne, die Schauspielerin Wiebke Mollenhauer, und nimmt auf einem Stuhl vor einer Kamera Platz.
Sogleich erscheint ihr Gesicht auf der 4,5 × 4,5 Meter großen Leinwand, auf dem wir von nun an alle ihre Reaktionen auf den Text ablesen. Ein Gesicht, so nackt und verletzlich und mit einer Mimik wie ein äußerst sensibler Seismograph, der fortan wie ein emotionaler Verstärker der Worte wirkt.
Vielstimmiges IchUnd diese Worte sind keine leichte Kost. Immer wieder berichten die vier Stimmen von gewaltvollen Übergriffen auf Kinder, von sexualisierter Gewalt und selbstzerstörerischem Suchtverhalten. Sind es die eigenen Gedanken und Erinnerungsfetzen, denen diese Frau in Form innerer Stimmen horcht, während sie selbst auffällig stumm bleibt? Das überdimensioniert große, digital projizierte Gesicht: die schiere Fassade eines traumatisierten, innerlich zerbrochenen, vielstimmigen Ichs?
Zweifellos referiert Christopher Rüping damit auch auf das In-Yer-Face-Theater, als deren wichtigste Vertreterin Kane gilt. Als in den 1990er-Jahren auf vielen Theaterbühnen der Schweiz noch vornehmlich Regietheater gespielt wurde, platzierte Kane in England mit ihren drastischen, in vulgärer Sprache verfassten Stücken, die ihr Publikum provozieren und berühren sollten, eine Bombe nach der anderen und revolutionierte damit die Theaterlandschaft.
Dann ist es stillErst als die Stimmen im Laufe des Abends immer lauter werden, als aus der Sinfonie eine Kakofonie wird, beginnt die Fassade der Frau zu bröckeln. Zum ersten Mal an diesem Abend vernehmen wir ihre Stimme. Vielmehr ist es ein leises Gurgeln, das wie nach langer Sprachlosigkeit aus tiefer Kehle dringt und zu einem wahnsinnigen Lachen anschwillt. Sie erhebt sich von ihrem Stuhl vor der Kamera und als darauf ihr Gesicht die Leinwand verlässt, ist es, wie wenn ein Film, der für lange Zeit unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, plötzlich abbricht. Langsam und unter schallendem Gelächter verlässt sie die Bühne. Kurz ist ein unheimliches Echo zu hören, dann ist es still.
Ohne die Frau verlieren die vier Stimmen ihr Zentrum, verkennen und verfehlen einander und verlieren sich im Skript. Beinahe verlieren auch wir im Publikum den Faden. Schon scheint das Stück vorüber, als ein Techniker die Bühne betritt und die Leinwand an einem Haken befestigt und erneut in die Höhe zieht. Dann passiert etwas Magisches: Wir sehen die Frau auf dem Zürcher Sechseläutenplatz, sie setzt sich in Bewegung, beginnt zu rennen, quer über den Platz, vorbei an Menschen, die auf die Tram warten. Kurz schwenkt die Kamera zum Ticketautomaten, dort steht das Datum: 04.03.23, 21:44, das ist jetzt. Bei Rotlicht rennt sie über die Straße, biegt ab Richtung See, der um diese Zeit eine einzige schwarze Fläche ist, nur in der Ferne des anderen Ufers blinken einzelne Lichter.
Und sie rennt noch immer, als sie am Seebad Utoquai vorbeikommt, wo sie die Treppe erreicht. Und plötzlich wissen wir, was jetzt kommt. Kanes Stück endet mit dem freien Fall ins Licht - den Selbstmord glorifizierend - mit den Worten: „Glücklich/ So glücklich/ glücklich und frei." Sie zieht die Jacke aus, die Hose, die Schuhe und geht hinein - und schwimmt, schwimmt, als hätte das Wasser nicht 5 Grad Celsius, als wäre nicht Anfang März und nachts, sondern als wäre sie erst jetzt gerade richtig lebendig geworden.
Siebenmal muss sich Wiebke Mollenhauer später vor der Kamera verbeugen, jedes Mal trägt sie ein Kleidungsstück mehr, einen Schuh, die Daunenjacke. Der Applaus reißt zuletzt wohl aus Mitleid für die Frierende ab; aber er gilt vor allem ihr.