RNZ-Gespräch mit dem Mobbing-Experten Franz Hilt über Psychoterror im Klassenzimmer und was man dagegen tun kann
30.10.2013, 06:00
Von Sabine Hebbelmann
Sinsheim. Mobbing - nicht nur an Schulen - wird immer mehr zu einem ernsthaften gesellschaftlichen Problem. Die RNZ hat sich über dieses Phänomen mit Franz Hilt unterhalten. Der Experte ist Mediator und Leiter des Referats Prävention des agj - Fachverband für Prävention und Rehabilitation in Freiburg. Er ist Mitbegründer des Fortbildungsprogramms "Konflikt-Kultur", das von ihm und seinen Kollegen an zahlreichen Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe in Deutschland und in der Schweiz umgesetzt wird. Das Gespräch fand am Rande der Fachtagung "Strategien gegen Mobbing" in Sinsheim statt (s. eigenen Artikel auf dieser Seite).
Was genau versteht man unter Mobbing? Das wiederholte und systematische Schikanieren Schwächerer, mit dem Ziel, einen hohen sozialen Status innerhalb der Gruppe zu erlangen und aufrechtzuerhalten. Es ist nicht zu verwechseln mit einem Gerangel unter Gleichstarken.
Wie kommt es dazu? Geltung kann gewinnen, wer besondere Leistungen erbringt. Es gibt aber auch eine bequemere Art: Wer andere klein macht, wird selber größer. Das bekommen manche Kinder schon im Kindergarten heraus. Neuere Untersuchungen zeigen, dass - anders als lange Zeit angenommen - sich die "Täter" sehr wohl in Andere einfühlen. Sie verfügen sogar über eine erhöhte soziale Kompetenz, die sie gezielt nutzen, um bei ihren "Opfern" zielgenau die wunden Punkte zu finden und um über soziale Manipulation die persönlichen Ziele zu erreichen.
Wo tritt Mobbing auf? In Zwangsgemeinschaften, denen man nicht entfliehen kann. Das kann die Schulklasse sein, aber auch ein Arbeitsverhältnis oder eine Dorfgemeinschaft. Im Schnitt sind in jeder Klasse ein oder zwei Kinder betroffen. Entscheidend ist die Führungsqualität des Klassenlehrers, der verbindliche Regeln einführen und umsetzen und auf Transparenz, gegenseitige Achtung und ein faires Miteinander achten sollte.
Wer wird ausgewählt? Jeder kann zum "Opfer" werden. In der Schule trifft es vor allem Kinder, die sich gegen Angriffe nicht effektiv wehren, die schnell weinen oder leicht ausrasten und die wenig Freunde und Unterstützer in der Klasse haben. Als "Aufhänger" kann alles dienen, was geeignet ist, dem anderen ein Etikett zu verpassen: eine auffällige Brille, ein paar Sommersprossen oder Kilo mehr oder eine bestimmte Haarfarbe.
Wie läuft der Psychoterror im Klassenzimmer genau ab? Jemand, der auf Geltung aus ist, sondiert die Lage und schaut, wie verschiedene Mitschüler auf kleinere Provokationen reagieren. Oft findet er sehr schnell ein geeignetes "Opfer" und beginnt, es systematisch zu schikanieren. Einigen Mitschülern macht es Spaß, mitzumachen, andere lachen. Sie geben ihm so die Anerkennung, nach der er verlangt. Er wird zum Mittelpunkt einer Gemeinschaft und bekommt Macht. Einige verteidigen das "Opfer", dringen aber als einzelne nicht durch. Viele halten den Mund und würden am liebsten verschwinden. Hält das Mobbing längere Zeit an, manifestieren sich die Rollen und das "Opfer" fällt aus dem Werterahmen der Gruppe. Jetzt gibt es keine Unterstützung mehr und alles scheint erlaubt.
Wie wirkt sich Mobbing aus? Die Folgen für die Betroffenen sind gravierend: Gewaltfantasien, Rückzug, psychosomatische Reaktionen, Depression und Suizidgedanken bis hin zum Selbstmord zeigen die große Belastung der "Opfer".
Warum fühlen sich Betroffene ihren Peinigern ausgeliefert? Sie machen sich die ihnen zugedachte Rolle zu eigen, schämen sich, ihr Selbstwertgefühl sinkt ständig. Viele reden nicht über das, was sie erleiden, schließlich gilt schnell als Petze, wer sich dem Lehrer oder den eigenen Eltern anvertraut. Manche haben auch Angst vor den Reaktionen der Eltern oder wollen diese schonen. Tatsächlich können Lehrer und Eltern durch unbedachtes Eingreifen alles noch schlimmer machen.
Was kann man tun? Als Notlösung wird das Kind meist aus der Klasse genommen. Die "Täter" können das allerdings als Bestätigung auffassen und sich das nächste "Opfer" suchen. Besser ist es, im Rahmen einer systematischen Mobbingintervention die gesamte Gruppe in den Blick zu nehmen, die Vorgänge gemeinsam aufzuarbeiten und Konsequenzen einzufordern. Es geht nicht darum, einen Schuldigen zu finden, sondern das "Opfer" zu unterstützen, das Leid vor Augen zu führen und das Einfühlungsvermögen aller zu fördern. Da die Rückfallgefahr groß ist, sollte sich über ein halbes Jahr ein Sozialtraining anschließen.
Wie sieht ein solches Training aus? Das Sozial- und Kommunikationstraining des Programms Konflikt-Kultur eignet sich für alle Klassen, von der ersten bis zur 13. Klassenstufe. Es wird vom Sozialministerium gefördert und ist für die Schulen kostenlos. Es handelt sich um ein zusammenhängendes pädagogisches Konzept, das präventiv wirkt und die Ebene der Schulgemeinschaft, die Klassenebene und die persönliche Ebene einbezieht. An zwei Tagen arbeiten wir vormittags mit Schülern und Lehrern und nachmittags mit Lehrern zur Planung der Nachbereitung. Im Idealfall wird das Programm in allen Klassen einer Schule in der Eingangsstufe eingeführt. Dabei wird die Klassengemeinschaft gestärkt und eine Erzählkultur etabliert, die es auch den "stillen" Schülern erlaubt, ihre Meinung zu äußern.