Es gibt wohl kaum etwas, das schrecklicher ist als ein Genozid. Deswegen wird er auch als „Crime of all Crimes" („Verbrechen aller Verbrechen") bezeichnet. Und weil es kaum etwas Schrecklicheres gibt, ist der Begriff sehr wirkmächtig - und wird deshalb manchmal missbraucht. So behauptet Putin, in der Ukraine werde ein Völkermord an den Russen verübt, und rechtfertigt damit propagandistisch einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg.
Türkische Rechtsextreme wiederum leugnen nicht nur den Genozid an den Armeniern, sondern verbreiten auch, es sei eigentlich umgekehrt gewesen: Die Armenier hätten die Türken umgebracht, wogegen die sich zur Wehr hätten setzen müssen. Es ist eine Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr. Für die amerikanische Historikerin Deborah Lipstadt ist die Leugnung die letzte Stufe des Völkermords. Sie sagt: „Es gibt Fakten, es gibt Meinungen, und es gibt Lügen."
Nun ist Genozid ein Tatbestand, ein Faktum. Und keine Frage der Perspektive. Er beschreibt laut der UN-Konvention von 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords: „Handlungen, in der Absicht begangen, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören." Und so wird auch zwischen Völkermord und beispielsweise Kriegsverbrechen unterschieden. Manchmal wird der Genozid-Begriff auch in guter aktivistischer Absicht ins Feld geführt, etwa um aufzurütteln und auf Unrecht aufmerksam zu machen. Er beschreibt jedoch einen konkreten Tatbestand und ist kein Synonym für „besonders schlimm und grausam".
Aus den sogenannten Umweltaktivisten wurden Soldaten in UniformWas aber ist mit der Verhütung von Völkermord? Schließlich gilt es einzugreifen, bevor es zu spät ist.
Schauen wir nach Berg-Karabach oder Arzach - so lautet der armenische Name. Dort in der armenischen Enklave sind derzeit etwa 120.000 Menschen, darunter 30.000 Kinder, eingeschlossen. Seit fast neun Monaten blockiert Aserbaidschan den Latschin-Korridor, die einzige Straße, die von Armenien nach Berg-Karabach führt. Begonnen hatte es mit aserbaidschanischen „Umweltaktivisten", die dann, als es kälter wurde, durch Soldaten, ganz klassisch in Uniform, ersetzt wurden. Nach dem im Herbst 2020 unterzeichneten Waffenstillstandsabkommen* zwischen Armenien und Aserbaidschan sollten zwar russische Friedenstruppen (klingt wie ein Witz, aber sie heißen wirklich so) dort für Sicherheit sorgen - auch am Latschin-Korridor -, aber sie machen nichts. Und so harren die Menschen in Berg-Karabach aus.
Das Benzin wird knapp und das Gas. Da Aserbaidschan auch die Stromversorgung kontrolliert, sitzen die Menschen oft im Dunkeln. Es werden kaum Lebensmittelkonvois durchgelassen. Seit Mitte Juli ist alles komplett dicht, auch für Krankentransporte des Internationalen Roten Kreuzes. In Berg-Karabach fehlt es an Medikamenten. Die Menschen hungern. Schon im Juli wurde gemeldet, die Zahl der Fehlgeburten habe sich verdreifacht. Und jetzt soll es den ersten Hungertoten gegeben haben. Ein vierzig Jahre alter Mann sei an Mangelernährung gestorben.
Menschenrechtsorganisationen schlagen Alarm, von einer drohenden humanitären Katastrophe ist die Rede. Armenien hat eine Dringlichkeitssitzung im Weltsicherheitsrat beantragt. Die Menschen in Berg-Karabach sprechen von einem Genozid und verweisen dabei auf eine historische Kontinuität: den Genozid 1915 im Osmanischen Reich. Auch Luis Moreno Ocampo, der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, benutzt den Begriff. In einem Bericht schreibt er: „Der Hunger ist die unsichtbare Waffe des Völkermords. Ohne sofortige dramatische Veränderungen wird diese Gruppe von Armeniern in wenigen Wochen vernichtet werden."
Diesen Bericht hat auch eine Journalistin in der Bundespressekonferenz zitiert, verbunden mit der Frage, was denn die Bundesregierung gegen die Blockade unternehme. Sie wurde mit „na ja", „Propaganda" und „Kampfbegriff" abgespeist. Man kann darüber streiten, ob in Berg-Karabach ein Genozid droht oder schon einer im Gang ist. Dafür müssen Beweise gesammelt werden. Doch es ist ein Faktum: 120.000 Menschen sind dort eingeschlossen.
Es ist auch eine Tatsache, dass die Armenier bereits zum Opfer eines Genozids wurden, den die Türkei und Aserbaidschan bis heute leugnen. Der aserbaidschanische Diktator Aliyev hat in den vergangenen Jahren Sätze verlauten lassen wie diesen: „Wir jagen sie wie Hunde" - gemeint waren die Armenier. All das, möchte man meinen, müsste Grund genug sein, um Alarm zu schlagen. „Droht ein Genozid?", titeln deutsche Medien.
Ob nun ein Genozid droht oder nicht, die Situation in Berg-Karabach ist untragbar. Die Blockade von humanitären Hilfsgütern und Krankentransporten ist ein Verbrechen. Es ist so eine Sache mit der Prävention: Wenn man etwas mit Fug und Recht als Genozid bezeichnen kann, ist es immer schon zu spät.
*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung hieß es, dass im „Herbst 2022 zwischen Armenien und Aserbaidschan ein Friedensabkommen" unterzeichnet wurde. Dies haben wir korrigiert. Es wurde im Herbst 2020 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet.