Wenn man Deutschland nur hin und wieder verlässt und in eines der Länder des sogenannten Globalen Südens reist, dann wirken manche der hiesigen Diskurse über ebenjene pauschal so genannten Regionen - man kann es nicht anders sagen - irre. Ja, geradezu selbstbezogen und provinziell. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Schon der Begriff Globaler Süden ist völlig unbrauchbar, meint er doch alles und nichts. Es ist nicht so, dass Entwicklungs- oder Schwellenländer bessere Begriffe wären, denn sie wecken doch mehr Vorstellungen (hungrige Kinderaugen und qualmende Fabrikschornsteine), als dass sie tatsächlich etwas beschreiben: Was entwickelt sich denn wie und wohin? Wann ist ein Land fertig entwickelt?
Der Begriff Globaler Süden, so lese ich, soll auch koloniale Machtverhältnisse, den Export des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, außerdem die weltweite Verbreitung europäischer Wissenssysteme beschreiben, zu denen übrigens auch die Ideen der Aufklärung, der Universalismus und die demokratischen Werte zählen. Ein Stück weit mag man da noch mitgehen, man denke nur an die Verwüstungen und bis heute andauernden Konflikte, die der Kolonialismus in vielen Ländern hinterlassen hat. Wenn man aber liest, welche Länder zum sogenannten Globalen Süden gezählt werden, wird es absurd.
Diktaturen interessieren nichtDie Türkei zum Beispiel, Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, das schon im 15. Jahrhundert damit begann, schwarze Menschen als Sklaven zu verschleppen und im Laufe der Jahrhunderte auf eine geschätzte Zahl von einer Million kam, bis die Sklaverei - reichlich spät - 1857 offiziell abgeschafft wurde (der antischwarze Rassismus wirkt trotzdem bis heute fort). Absurd ist es auch, wenn man sich die Geschichte von Verfolgung, Diskriminierung, gar Auslöschung von Minderheiten (Kurden, Aleviten, Jesiden, Armenier, um nur einige zu nennen) und die Expansionspolitik (Kriege außerhalb der eigenen Staatsgrenzen und weltweiter Export islamistischer Ideologie) ansieht. Der Begriff Globaler Süden scheint also nur jene Ausbeutungs-, Unterdrückungsverhältnisse zu meinen, bei denen die Gewalt vom bösen Westen ausgeht.
Diktaturen, die sich selbst als antikolonial und antiwestlich verstehen, wie zum Beispiel das Assad-Regime in Syrien oder die Islamische Republik Iran, interessieren nicht. Kollidieren Ereignisse dann mit dem eigenen Weltbild und lassen sich nicht mehr ignorieren, kommt es zu Verwirrung: Ja, wie soll man denn jetzt die brennenden Kopftücher der Frauen bei den Protesten gegen das iranische Regime einordnen? Handelt es sich vielleicht doch um antimuslimischen Rassismus? Man versichert sich, dieses Regime habe aber auch nichts mit dem Islam, nichts mit Religion zu tun. Auch wenn sich das iranische Regime selbst als islamische Republik bezeichnet und laut der eigenen Verfassung als Gottesstaat versteht, dessen offizielles Oberhaupt der Mahdi ist, der letzte und verborgene Imam, eine Erlöserfigur in der Shia, der bis zu seiner Wiederkehr vom obersten Rechtsgelehrten, dem Ayatollah, vertreten wird.
Kritik an Religion sei kolonialistischNun, es gibt nicht den einen Islam, und er kann wie alle Religionen in der bestmöglichen wie in der allerschrecklichsten Art ausgelegt und ausgelebt werden (wobei ich, da spreche ich aus einer jesidischen Erfahrung, Export und Expansionsreligionen nicht unbedingt für eine ungefährliche Sache halte). Doch woher kommt es, dass man jegliche Thematisierung oder Kritik an Religion und ihrer politischer Indienstnahme mit heftigster Abwehr begegnet? Ist es diese merkwürdige Vorstellung, dass Kritik an Religion und deren Institutionen im Grunde aufklärerisch und somit kolonialistisch sei? Dass man so sehr an seinem postkolonialen Weltbild hängt, dass man die jahrhundertelange Zwangsislamisierung religiöser Minderheiten nicht sehen will? Auch nicht, wenn es, wie bei den Jesiden 2014, in einen Genozid - verübt im Namen des Islam - mündet?
Nicht nur was Religionskritik betrifft, bleibt man ratlos. Wenn man nach Bagdad schaut, wo Demonstranten fordern, ihnen ihr Land zurückzugeben, und damit nicht westliche Kolonialherren meinen, sondern die eigene korrupte Elite. Wenn man die Islamische Republik Iran betrachtet, die nicht nur innerhalb ihrer eigenen Landesgrenzen wütet, sondern auch in Syrien (mit mindestens 1000 gefallenen Kämpfern), in Jemen (wo sie die Huthi-Rebellen unterstützt), in Libanon (mit ihren Proxy-Milizen der Hisbollah) und in der Autonomen Region Kurdistan (wo sie regelmäßig bombardiert).
Nun kann man nicht gleichzeitig Wasser predigen und Wein saufen. Selbstverständlich muss der Westen sich an seinen eigenen Ansprüchen messen (Menschenrechte auch im Mittelmeer einhalten zum Beispiel). Doch warum man im Namen des Antikolonialismus dem sogenannten Globalen Süden Individualität, Demokratie und Freiheit nicht gönnen will, bleibt schon ein Rätsel. Und noch dazu, wenn der Schrei nach Freiheit besonders laut zu hören ist wie jetzt gerade auf den Straßen in Iran.
Von der Autonomen Region Kurdistan Irak aus betrachtet, von wo aus ich diese Kolumne gerade schreibe, wo erst vor wenigen Stunden eine iranische Rakete eingeschlagen ist, sehen diese deutschen Diskurse - nun ja - ein wenig anders aus.