Es ist wieder Nahostkonflikt. Eben waren noch alle Virologen, jetzt sind alle Nahostexperten. Auf Social Media werden fleißig Infografiken geteilt, auch wenn man nicht genau weiß, was der Unterschied zwischen Westbank und Gaza ist. Oder dass die Videos und Posts mitunter von Islamisten kommen, egal - dabei sein ist alles. Auf deutschen Straßen wird wieder „Kindermörder Israel" gerufen, mit „From the river to the sea Palestine will be free" ein judenfreies Nahost erträumt. Mal heißt es „Chaibar, Chaibar, ihr Juden, Mohammeds Heer kommt bald wieder", dann wieder „Bombardiert Tel Aviv". Querfronten werden gebildet, Islamisten laufen neben antiimperialistischen Linken, neben panarabischen Nationalisten, neben türkischen Rechten. Zu sehen sind auch: Saddam-Hussein-T-Shirts, Symbole der Grauen Wölfe, iranische Flaggen. Mitunter werden diese antisemitischen Aufmärsche auch als Israelkritik oder Dekolonisierung gelabelt. Man fragt sich: Wenn Israelkritik, warum vor Synagogen und nicht vor der israelischen Botschaft?
Antisemiten sind immer die anderen. Rechte, linke, bürgerliche, migrantische wie deutsche Antisemiten werfen sich gegenseitig vor, die wahren Antisemiten zu sein. Man darf bezweifeln, dass es einer Beatrix von Storch wirklich um Antisemitismus geht, wenn sie ihn allein bei Migranten verortet. Man darf sich auch fragen, wo all die Leute sind, die man heute auf der Straße sieht, wenn Erdogan mal wieder in Syrien einmarschiert ist, Kurden bombardiert oder Islamisten in Bagdad, Shingal und Kabul Massaker verüben. Man darf sich fragen, warum, wenn es wirklich um Zivilisten geht, nicht auch gegen die Hamas demonstriert wird. Und wieso weltweit an den Nakba-Tag erinnert wird, aber nicht an die Juden, die aus dem Nahen Osten und Nordafrika vertrieben wurden, und an Pogrome wie den Farhud in Bagdad. Und was ist das für ein komisches Wort: „Israelkritik"? Haben Sie schon mal von Irankritik, Syrienkritik oder Saudi-Arabien-Kritik gehört? Dabei sind diese Länder Diktaturen. Als ob er je weg gewesen wäre, wird wieder gefragt, woher der Antisemitismus auf einmal komme. Ist er home-grown oder doch importiert? Beides stimmt.
Für Juden in der islamischen Welt bedeutete das Leben Armut und Ausgrenzung. Als „Dhimmi" waren sie Bürger zweiter Klasse. Der vorkoloniale Nahe Osten war kein Paradies, in dem Juden und Muslime friedlich miteinander lebten. Auf den islamischen Antijudaismus traf im 20. Jahrhundert der deutsche Antisemitismus. Nazis exportierten Judenhass. Auf Radio Zeesen wurde arabische antisemitische Propaganda gesendet. Fritz Grobba, ein deutscher, zum Islam konvertierter Diplomat, begann 1934, „Mein Kampf" in einer Bagdader Zeitung zu veröffentlichen. Einen Verbündeten fanden die Nazis in el-Husseini, Großmufti von Jerusalem, der Mitglied der SS war und für diese Muslime auf dem Balkan rekrutierte. Zudem verhinderte er die Auswanderung Tausender jüdischer Kinder nach Palästina. Sie wurden in deutschen Vernichtungslagern ermordet. Oft wird die Staatsgründung Israels als Grund für antijüdische Politik und Pogrome in den arabischen Staaten gesehen. Das stimmt nicht. Das Pogrom von Aleppo 1947 fand wie der Farhud 1941 schon vor der Staatsgründung statt.
Für Antisemitismus braucht es keine JudenBis heute sind „Mein Kampf" und die Protokolle der Weisen von Zion Bestseller in der arabischen Welt, in der Türkei und in Iran. Auch wenn es dort kaum mehr Juden gibt. Doch für Antisemitismus braucht es keine Juden. Juden sind Projektionsfläche für etwas, das Samuel Salzborn „negative Leitidee der Moderne" nennt. Über den Hamas-Fernsehsender al-Aqsa TV, den Hizbullah-Sender al-Manar, den türkischen Staatssender TRT wird antisemitische Propaganda auch jetzt in deutsche Wohnzimmer ausgestrahlt und über zahlreiche Social-Media-Kanäle weiterverbreitet. Auch in deutscher Sprache. In diesen Tagen sieht man dort Bilder von zerstörten Häusern und toten Kindern in Gaza, manchmal auch in Syrien - man nimmt es nicht so genau. Dass die Hamas nicht nur Steine wirft, Zivilisten als Schutzschild missbraucht werden und einige der eigenen Raketen in Gaza einschlagen, wird nicht erwähnt. Von den Opfern auf israelischer Seite ist keine Rede. Auch Einordnung sucht man vergeblich. Dafür bekommt man neben Koranversen Verschwörungsmythen serviert, wie wir sie auch schon von den Antisemiten von Pegida und von Querdenken kennen: Die westlichen Medien seien allesamt von Zionisten kontrolliert.
Antisemitismus ist der Kern aller islamistischen Bewegungen, ebenso der panarabischen. In Syrien ist Antisemitismus quasi Staatsdoktrin. In Iran werden israelische Flaggen nur hergestellt, um sie wieder zu verbrennen. Erdogan fantasiert über Israel schon als Teil seines neo-osmanischen Reiches und sagt: „Jerusalem gehört uns."
Als ich vor einer Weile über Antisemitismus schreiben wollte, hatte ich Sarah Idan im Kopf, Miss Irak, deren Familie nach einem gemeinsamen Selfie mit Miss Israel fliehen musste und die auch jetzt wieder angefeindet wird, weil sie sich gegen Antisemitismus, Hamas und die Muslimbruderschaft positioniert. Ich wollte über die libanesische Popsängerin Elissa schreiben, die sagte: „Dass Israel unser Feind ist, ist die größte Lüge, in der wir leben." Dem ist nichts hinzuzufügen.