Der Krieg kam über mich am 7. Oktober 2019. Ich wachte auf, griff, noch im Bett liegend nach meinem Smartphone. Ich las die Nachrichten: die US-Truppen sind auf Trumps Befehl aus Nordostsyrien abgezogen und in den Irak verlegt worden. Ich war noch nicht ganz wach, doch ich verstand, was das bedeuten würde. Der Himmel war grau an diesem Tag. Ich stand auf, kochte einen Kaffee.
Der Krieg, der sich an diesem Morgen abzeichnete, wurde am 9. Oktober eine Tatsache. Die Türkei begann einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und marschierte in Nordostsyrien ein. Und nannte diesen Angriffskrieg „Operations Friedensquell".
Wieder begann etwas, das ich schon von anderen Kriegen kannte. Die Fotos von den Getöteten und Verwundeten in meinen Facebook-, Twitter-, Instagram-Feed. Ich sah, wie die in der Chemiewaffenkonvention verbotenen Phosphorbomben über Nordostsyrien abgeworfen wurden, ich sah Fotos von der hingerichteten kurdischen Politikerin Hevrin Khalef. Und wieder, auch das kannte ich, tat sich ein Riss zwischen mir, den vorbeigehenden Passanten unter meinem Fenster, der Freundin, mit der ich zum Mittagessen verabredet war und meinen Mitstudierenden, mit denen ich im Seminar saß, auf. Mein Kopf war im Krieg. Meine Füße gingen über die Leipziger Pflastersteine.
Der Krieg wird auch in Deutschland ausgetragenDer Einmarsch in Nordostsyrien im Oktober 2019 war nicht der erste völkerrechtswidrige Angriffskrieg, den die Türkei begann und sollte nicht der letzte sein. 2018 marschierte sie unter dem Namen „Operation Olivenzweig" im kurdischen Afrîn ein. Und 2020 startete die Türkei die „Operation Adlerklaue", wo sie kurdische und êzîdische Siedlungsgebiete - Shingal, Mexmur und Qandil - im Irak bombardierte.
Schon 2018, als die Türkei in Afrîn einmarschierte, fragte Maybritt Illner in ihrer Talkshow: „Erdoğans Kampf gegen die Kurden - kommt die Gewalt zu uns?"
Rund drei Millionen Menschen in Deutschland sind türkei-stämmig, doch nicht alle von ihnen sind Türk*innen. Schätzungsweise eine Million Menschen in Deutschland sind kurdisch, aus der Türkei, Syrien, Irak und dem Iran.
Ein Jahr später, 2019, als das türkische Militär in Nordostsyrien einmarschierte und es in Deutschland am Rand von Demonstrationen zu Ausschreitungen kam, wurde die Frage nach dem Zusammenleben von Türk*innen und Kurd*innen erneut gestellt. Auch ich wurde gefragt, ob ich türkische Freund*innen habe, wie unser Verhältnis jetzt seit dem Angriffskrieg ist, ob es in meinem Umfeld Konflikte gibt. Ich wusste nie, was ich auf diese Fragen antworten sollte. Weil es die falschen Fragen waren und weil es nicht eine Antwort darauf gab.
Der kurdisch-türkische Konflikt, das muss man verstehen, sagte ich dann oft, ist kein symmetrischer Konflikt, wo sich zwei etwa gleich große Parteien gegenüberstehen und bekriegen. Die Unterdrückung der Kurd*innen war bereits in der Staatsgründung der Türkei verankert. Und Deutschland, das muss man auch verstehen, ist Teil dieses Konfliktes. Zum Beispiel ist Deutschland NATO-Partner der Türkei und Waffenlieferant. 2018 rollten auch deutsche Leopard II Panzer in Afrîn ein. Nicht nur ist Deutschland in diesen Krieg verstrickt, er wird auch in Deutschland ausgetragen. Da gibt es kurdische und türkische Schüler*innen, die auf dem Schulhof aneinandergeraten, und Lehrkräfte, die oft überfordert sind und nicht verstehen, was da eigentlich vor sich geht, da gibt es Streit in Sportvereinen, Freund*innen, Kolleg*innen und Bekanntenkreisen. Doch es wäre falsch, diese Konflikte nur individualisiert zu betrachten.
In DITIB-Moscheen wird für den Sieg in Nordostsyrien gebetet. AKP-Staatsmedien senden Kriegspropaganda in deutsche Wohnzimmer. Vom AKP-Sender TRT beispielsweise gibt es seit diesem Jahr nun auch eine Digitalversion in deutscher Sprache. Schätzungsweise 6.000 bis 8.000 Spitzel arbeiten in Deutschland für den türkischen Geheimdienst MIT. Kritiker*innen von Erdoğans Kriegspolitik werden massiv bedroht, eingeschüchtert, beleidigt und in der Türkei angezeigt. Zum Beispiel über die Denunzier-App der türkischen Sicherheitsbehörden EGM, die man kostenlos auf Google Play oder im App-Store herunterladen kann und die, obwohl die Bundesregierung von ihr weiß, in Deutschland nicht verboten ist.
Schneller als man schreiben kannAm 7. Oktober 2019 noch, als mir klar wurde, dass die Türkei in Nordostsyrien einmarschieren würde, initiierte ich einen Offenen Brief, „Die Türkei will in Syrien einmarschieren - und wir alle sagen Nein", den über hundert Menschen aus Kunst, Kultur, Politik und Zivilgesellschaft unterschrieben. Weitere Hunderte unterzeichneten in den nächsten Tagen. Ich schrieb einen Kommentar nach dem anderen, kommentierte den Angriffskrieg in Interviews, auf Instagram. Ich schrieb, weil es das Einzige war, das ich tun konnte. Immerhin, sagte ich mir, konnte ich schreiben.
Ich schrieb Sätze wie: Der Krieg ist schneller, als ich schreiben kann. Und: Schreiben ist ein hilfloser Versuch, Nein zu sagen.
Während ich schrieb, kamen die Drohungen, Beleidigungen. Türk*innen, die in Deutschland lebten, beschimpften mich als Terroristin, feierten, den Angriffskrieg, freuten sich, dass das Dorf meiner Großeltern nun endlich „gesäubert" werden würde.
Alle Parteien im Türkischen Parlament hatten für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in Nordostsyrien gestimmt, alle - mit Ausnahme der HDP, die in der deutschen Berichterstattung oft mit dem Attribut „prokurdisch" versehen wird. Und ich fragte mich: Wenn die HDP prokurdisch war, waren die anderen Parteien antikurdisch? Als ob prokurdisch und antikurdisch einfach so eine Sache wäre, über die man einer oder anderer Meinung sein könnte.
Ich sprach viel mit kurdischen Freund*innen. Der Angriffskrieg war für uns alle eine starke Belastung, auch psychisch, besonders für die von uns aus Nordostsyrien. Schlaflosigkeit, Taubheitsgefühle, Angst, Wut, Trauer, Erinnerungen an eigene oder in der Familie erfahrene Verfolgung, Vertreibung, Anti-kurdischer Rassismus, Gewalt - der Angriffskrieg riss kaum verheilte Wunden wieder auf.
Es hat auch in Deutschland unter Türk*innen viel Zustimmung für den Angriffskrieg gegeben. Ich sah das auf Social Media eine Menge antikurdischen Rassismus, viel Freude über die Raketen, Bomben und Tote. Ich sah auch, darüber sprach ich viel mit Freund*innen, das Schweigen von Türk*innen in Deutschland, die viel über Rassismus hier sprachen, aber zu dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg schwiegen.
Und ich sah, wenn es auch wenige waren, sehr wenige, Türk*innen in Deutschland, die gegen Erdoğans Kriegspolitik auf die Straße gingen, ihre Solidarität bekundeten, privat, oder öffentlich auf Instagram, Twitter und Facebook. Das sind die Freundschaften und Bekanntschaften, die nicht zerbrachen.
Nicht Distanzierung. PositionierungWas willst du?, wurde ich oft gefragt. Distanzierung vom Erdoğan-Regime? Du wirfst den Türk*innen in Deutschland pauschal Nähe zur AKP vor? Nicht Distanzierung, habe ich dann gesagt. Positionierung. Positionierung gegen Menschenrechtsverletzungen, ethnische Säuberung, gegen Hinrichtungen wie der von Hevrin Kahlef, gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Positionierung, wo doch Schweigen eine Form von Zustimmung, zumindest eine Duldung ist.
Der Einmarsch des türkischen Militärs in Nordostsyrien hat das Zusammenleben zwischen Türk*innen und Kurd*innen in Deutschland nicht verändert. Vielmehr war es ein Brennglas, das die Risse und Gräben, die ohnehin schon immer dagewesen waren, noch einmal vergrößerte. Die Frage sollte nicht lauten: Findet der Krieg auch hier in Deutschland statt? Sondern: Wie gehen wir damit um? Dabei hilft es nicht, den Konflikt zu ethnisieren und zu individualisieren. Die Türkei ist ein Staat auf dem Weg zum Faschismus. Erdoğan führt Krieg in Syrien, im Irak, in Libyen und nun auch in Armenien. Und er erhebt Besitzansprüche auf Jerusalem und Zypern. Diejenigen, die ihn öffentlich kritisieren werden auch in Europa eingeschüchtert. Erst im September wurden mutmaßliche Anschlagspläne des türkischen Geheimdienstes unter anderem gegen die österreichische Politikerin Berivan Aslan bekannt. Es hilft auch nicht, den Konflikt auszusitzen, in einer vermeintlichen neutralen Position, die alles andere ist, als neutral. Denn Konflikte verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert.
Am 15. Juli, das war ein Mittwochabend - ich wollte eigentlich längst schlafen gehen -, erreichten mich Fotos und Videos: Das türkische Militär hatte begonnen kurdische und êzîdische Siedlungsgebiete im Irak zu bombardieren. Ich schrieb einer Freundin, schon wieder. Ich war müde, aber schlafen konnte ich lange nicht.
Ronya Othmann ist Schriftstellerin und Journalistin. In der Tageszeitung taz schreibt sie zusammen mit Cemile Sahin die Kolumne „Orient Express"