Der nordwestliche Zipfel Frankreichs kann Segler das Fürchten lehren. Doch er besitzt auch seinen ganz besonderen Zauber.
Der Leuchtturm auf der Ile de Bréhat ragt empor wie ein Warnfinger. Zu Recht; denn wer sich dieser Küste, wer sich der nördlichen Bretagne nähert, sollte sich nicht verirren. Sie scheint nur aus Felsen zu bestehen, die aus einer rauen, flaschengrünen See herausstechen. Die kurzen, steilen Wellen lassen das Segelboot tanzen wie ein wildes Pferd. Das macht das Navigieren nicht einfacher. Nun ist man froh über die Hilfen, welche die moderne Technik selbst dem Hobbyseefahrer beschert hat: GPS und elektronische Karten. Auf einem Bildschirm gleich beim Steuerstand sieht man Position, Kurs, Geschwindigkeit und die Distanz zur Küste.
Mit Delphinen in den FlussUnd doch ist einem mulmig zumute. Es gilt Seezeichen zu erkennen, um die Einfahrt in den Fluss Jaudy zu finden, der uns zum sicheren Hafen von Tréguier führt. Es gilt Ausschau zu halten nach einer grünen und einer roten Tonne, die das Eingangstor zum Fahrwasser markieren. Dieses Fahrwasser führt gefährlich nah an die Felsen heran. Aber hier darf man nicht seinem Gefühl vertrauen, sondern muss ganz einfach den Markierungen folgen. Einmal scharf nach links, dann geradeaus, dann scharf nach rechts um eine grüne Boje herum. Und was ist das? Delphine schiessen aufs Boot zu und begleiten es auf seinem Weg in ruhiges Gewässer. Erst als die Bucht enger wird und das Meer in den Fluss übergeht, kehren sie um.
Und dann ist alles anders: Das Ufer ist grün und von Bäumen gesäumt, hinter denen sich gedrungene Bauten aus grauen Quadern verstecken, aber auch das eine und andere stattliche Anwesen. Der Turm der Kathedrale ist das Erste, was wir von Tréguier, dem ersten Ziel auf unserer Umrundung der Bretagne, erblicken. Noch eine Flusskrümmung, und wir sind da, legen an, atmen aus.
Ein Ungeheuer im AtlantikSchaut man sich die Bretagne, den nordwestlichen Zipfel Frankreichs, auf der Karte an, erinnert sie einen an einen Drachenkopf, der mit geöffnetem Maul in den Atlantik hinausstarrt. Die Felsen, die wie die Dornen eines vorsintflutlichen Ungeheuers aus dem Meer ragen, geben der Assoziation zusätzlich Nahrung. Doch trotz furchteinflössenden Bildern ist die Bretagne ein Seglerparadies, das einem auch wegen seiner Schönheit den Atem raubt.
Die Felsen der nördlichen Küste können sich auch in Mauern verwandeln, die dem Segler Schutz bieten vor Wind und Wellen und zwischen denen sich Strände auftun, die man eher in südlicheren Gefilden erwarten würde. Zum Beispiel bei Port Blanc; die Bucht liegt ein Stück weiter westlich von Tréguier. Ein Hafen im eigentlichen Sinn ist da zwar nicht zu finden. Aber es sind Bojen ausgelegt, an denen man sicher festmachen kann.
Dieser Küstenabschnitt heisst Côte de Granit Rose. Tatsächlich leuchten die Quader, die wie von Riesenhand zu bizarren Formationen aufeinandergetürmt sind, im Licht der Abendsonne in einem satten Rosa. Eine zusätzliche Note eines ohnehin schon faszinierenden Farbenspektakels mit den wechselnden Tönen des Meeres, dem Hellbeige der Strände und dem satten Grün der Baumkronen.
Der Drachenkopf weist unzählige Einkerbungen auf, Buchten und Flussmündungen, darüber hinaus vorgelagerte Inseln wie Bréhat, Les Sept Iles oder die Ile-de-Batz vor Roscoff. In diesen Ecken haben sich natürlich auch echte Häfen eingenistet, Städtchen, die wie ein Bekenntnis zum Meer hin ausgerichtet sind. Gebaut sind sie aus dem Granit der Gegend, und sie erzählen oft nicht nur Geschichten von Seefahrt, Handel und Fischerei, sondern auch von der wechselvollen Beziehung zum Nachbarn jenseits des Kanals, England. So darf sich etwa Roscoff rühmen, der Hafen gewesen zu sein, wo die spätere Königin Mary von Schottland ihren Fuss auf französischen Boden gesetzt hat. Zumeist aber waren die Begegnungen eher kriegerischer Natur. Doch weder das Meer noch die Engländer und letztlich auch nicht der französische Zentralstaat haben die Bretonen zermürbt und ihnen ihren Stolz und ihre Eigenheit genommen.
Bei Asterix' NachfahrenBekanntlich hatten schon die Römer ihre liebe Mühe mit diesem Volk. Die Schöpfer von Asterix und Obelix haben deren Dorf wohl deshalb hier angesiedelt, allerdings noch weiter im Westen, im Finistère, wo das Land endet. Penn-ar-Bed heisst die Gegend auf Bretonisch, was auch Kopf der Welt bedeutet. Vielleicht lag das Dorf der unbeugsamen Gallier in der Gegend von Aber Wrac'h, dem Fluss Aber. Dieser Küstenabschnitt wirkt gar noch eine Spur rauer. Und selbst flussaufwärts stellt sich diesmal keine Idylle ein.
Doch dieser Fluss ist für viele Segler Ausgangspunkt für die Reise nach Süden - auch für uns. Hier schafft der Leuchtturm auf der Ile Vierge Orientierung. Er gilt als der höchste Leuchtturm Europas. Und wieder suchen die Augen das aufgewühlte Meer nach Fahrwassermarkierungen ab, damit wir in den Fluss gelangen, in dem die Marina liegt. Der Ort selbst besteht bloss aus ein paar Häusern entlang einer Strasse. Zur frühen Jahreszeit, in der wir unterwegs sind, ist überhaupt nichts los. Eine Mischung aus Souvenirladen und Bistro verspricht wenigstens einen Happen zu essen. Beim Eintreten bellt uns der Haushund an. Die Wirtin und ihre Freundin sitzen als ihre eigenen Gäste vor einem Glas Wein. Auf einem der Tische liegen ein paar Krabben und Seespinnen. Der Fisch, der letztlich auf dem Teller mit ein paar Frites landet, stammt leider aus der Tiefkühltruhe. Umso mehr zieht es uns weiter.
Wer segelt, dringt ins Herz der Dinge vor, auch ins Herz von Städten.
Schon am nächsten Tag soll es um die Nasenspitze des Drachen herum in den Chenal du Four gehen. Der Wind bläst kräftig aus Osten. Der Seegang ist nichts für schwache Mägen. Zudem muss, wer diesen Kanal zwischen der Insel Ouessant und dem Festland besegelt, neben Wind und Wetter, den vielen Untiefen und Felsen auch den Gezeitenstrom im Auge behalten, der - wie durch einen Kamin eben - rauf und runter braust. Er diktiert, wann Abfahrtszeit ist. Dafür trägt er einen in Windeseile nach Süden, vielleicht nach Brest, das hinter einer schmalen Passage wohlbehütet in der Mündung zweier Flüsse liegt.
Wir entscheiden uns für Camaret-sur-Mer, das sozusagen auf der Zungenspitze unseres Drachen liegt, ein kleines Fischerstädtchen, das sich zwischen steile Felsklippen in eine geschützte Bucht geschmiegt hat. Ein Befestigungsturm, die Tour Vauban, offenbart den einen Existenzzweck von Camaret: die Einfahrt nach Brest gegen den einstigen Dauerfeind England zu beschützen. Ein anderer ist weit friedlicher: Camaret ist noch immer ein Fischereihafen, war es schon lange, und eine Reihe von hölzernen Schiffswracks, die hinter der Hafenmole vor sich hin rotten und pittoreske Sujets für Hobbyfotografen abgeben, legen Zeugnis davon ab. Diese Schiffe gingen einst auf Sardinenjagd bis nach Afrika. Heute sind Langustinen das Hauptgeschäft der hiesigen Fischer.
Wo das Land sanfter wirdAuch die nächste Etappe der Reise will wohlgeplant sein, führt die Passage doch erneut um ein Kap, das für seinen Gezeitenstrom berühmt ist: Pointe du Raz. Raz bezeichnet auf Bretonisch eine besonders heftige Meeresströmung, und hier zieht sie zwischen dem Festland und der Ile Seine hindurch. Nochmals geht es vorbei an Felsen, die über siebzig Meter aus dem Meer emporragen. Doch dann wird die Gegend flacher, und schwarze Felsabschnitte wechseln sich mit langen Streifen weissen Sandes ab. Alles wirkt nun ein bisschen lieblicher. Der raue Norden geht in einen sanfteren Süden über.
Städtchen wie Concarneau spielen entlang der Hafenpromenade schon ein wenig mit Grandezza. Die Altstadt indes liegt umschlossen von den Stadtmauern auf einer eigentlichen Insel mitten im Hafenbecken. Die Ville Close, die man durch ein mächtiges Stadttor betritt, beherbergt heute neben einem Fischereimuseum vor allem Läden, die bretonische Biskuits und Caramel au beurre salé, Caramelbonbons aus gesalzener Butter, anbieten. Für den Segler etwas zu viel Massentourismus.
Doch die Bretagne hat ihren Schatz an Überraschungen noch nicht erschöpft. Wie Perlen liegen hier die Inseln vor der Küste. Die Glénan, deren neun Inselchen ein Becken aus türkisfarbenem Wasser umschliessen. Die Ile de Groix und dann Belle-Ile. Kaum je hat ein Flecken unbescheidener und gleichzeitig zutreffender geheissen. Belle-Ile ist die grösste der vorgelagerten Inseln, und hinter den Felsen, die man von See aus sieht, verbirgt sich fruchtbares Ackerland. Es ist eine grüne Insel, deren Strände sie wie ein blendender Saum umfassen.
Der Hauptort Le Palais mit seinen stattlichen Häusern und der pyramidenförmigen Zitadelle lässt einigen Wohlstand vermuten. Für die Segler hat man hier lediglich ein paar Bojen ausgelegt, an denen man Bug und Heck festmacht und so quer zur Hafeneinfahrt liegt. Regelmässig wird das Boot von einer einlaufenden Fähre durchgeschüttelt, die Scharen von Touristen vom Festland herbringt. Viele reisen am Abend jedoch wieder ab, so dass man den Apéritif in Ruhe in einer der Hafenbars geniessen kann.
Morbihan - das kleine MeerVon Belle-Ile geht es für einmal nicht direkt nach Süden, sondern Richtung Nordosten, herum um die Spitze der Halbinsel Quibéron, die wie ein schmaler, gekrümmter Finger eine weite Bucht umschliesst und deren kleiner weisser Leuchtturm einem die sichere Passage vorbei an den felsigen Untiefen weist. Auf der anderen Seite der Bucht öffnet sich ein schmaler Einlass, durch den Wasser mit gurgelndem Strom schiesst und das Boot zu überraschender Geschwindigkeit beschleunigen lässt.
Und nun ist es, als würde sich ein Theatervorhang zu einem neuen Akt öffnen: Wir sind in den Golfe du Morbihan eingelaufen. Mor Bihan bedeutet auf Bretonisch "kleines Meer". In diesem Meer liegen 60 kleinere und grössere Inseln. Auf ihnen gedeihen Pinien, Eukalyptusbäume, Feigenkakteen und sogar Olivenbäume. Sie geniessen ein Klima, das sich mit dem Südfrankreichs ohne weiteres messen kann. Der Golf ist so etwas wie die Erfüllung eines Seglertraums. Zahlreiche geschützte Buchten, in denen man ankern oder das Boot an einer der Besucherbojen festmachen kann. Hier raubt einem kein plötzlich einsetzender Seegang den Schlaf, und mit dem Beiboot ist man rasch am Ufer, um ein paar Delikatessen zu besorgen.
Wir laufen die Ile-aux-Moines an, die grösste Insel im Golf. Ihre Form erinnert ein wenig an ein Kruzifix, weshalb Mönche im frühen Mittelalter sie wohl für sich ausgesucht haben. Vor den Mönchen waren indes längst schon andere Bewohner hier und haben ihre Zeugnisse in Form von Menhiren, Dolmen und Steinkreisen hinterlassen. Das zeitgenössische Publikum kommt vor allem zur Sommerfrische. Doch nebst dem Tourismus blüht auf der Ile-aux-Moines auch noch die Austernzucht, und wer das Eiland zu Fuss umrundet, kann beim einen oder anderen Ostréiculteur einkehren und sich bei einem Dutzend Huitres stärken. Oder man steigt hinauf zum "Le San Francisco", einem Restaurant mit Hotelbetrieb über dem Hafen und einem im wahrsten Sinn des Wortes zauberhaften Garten, in dessen exotischer Pflanzenpracht kleine, nie gesehene bunte Vögel sich vergnügen. Es riecht verführerisch nach grillierten Langusten und Fisch. Aber auch die Paste mit Feigen ist nicht zu verachten, die wir zusammen mit einer Flasche Cidre geniessen.
Es fällt schwer, sich von der Ile-aux-Moines zu verabschieden. Aber am anderen Ende des Golfs liegt noch Vannes, und mit dem Boot gelangt man mitten in die Stadt mit seinen windschiefen Fachwerkbauten. Kein Hotelzimmer kann eine vergleichbare Lage bieten. Wer segelt, dringt eben ins Herz der Dinge vor, auch ins Herz von Städten.
Von den schroffen Felsküsten der Nordbretagne bis zum Golfe du Morbihan mit seiner mediterranen Vegetation haben wir nun die Bretagne umsegelt, diesen unglaublich facettenreichen Drachenkopf. Die Reise führt weiter nach Süden, in die Vendée. Aber das ist eine andere Geschichte.
rel. ⋅ Die Bretagne ist auch für den Reisenden zu Lande gut erschlossen. Die meisten Orte sind mit dem Zug und dem Reisebus erreichbar. Als Ausgangspunkt zur Erkundung der südlichen Bretagne bietet sich der Flughafen Nantes an, der von der Schweiz aus unter anderem von Easy Jet angeflogen wird. In der Bretagne gibt es zahlreiche Charterbasen, etwa in San Malo, Brest oder Lorient. Die nordwestfranzösische Halbinsel ist auch für all jene ideal, die sich Segelpraxis aneignen wollen. Zahlreiche Segelschulen sind hier angesiedelt. Die berühmteste ist Les Glénans. Sie ist nach dem Krieg auf den Glénan-Inseln gegründet worden. Heute verfügt sie über verschiedene Basen, unter anderem in Vannes oder in Concarneau. Zumindest die südliche Bretagne lässt sich inzwischen auch unterhaltsam vom Sofa aus entdecken. In den Kriminalromanen von Jean-Luc Bannalec löst Commissaire Dupin nicht nur knifflige Fälle, sondern schwärmt auch lebhaft von der bretonischen Landschaft, von Kultur und Küche. Soweit es möglich war, haben wir die Angaben überprüft und für akkurat befunden.