Tierschützer werfen der Regierung eine Strategie der Verschleppung vor - besonders bei den Experimenten mit Affen.
Paragraf 7, Absatz 2 des Tierschutzgesetzes erlaubt, Tieren Schmerz, Leid und Schaden zuzufügen, wenn es einem wissenschaftlichen Zweck dient. Doch seit Jahren gibt es Streit: Wie viel Leid ist nötig? Bündnis 90/Die Grünen wollen das Gesetz reformieren. In den vergangenen Jahren seien vielversprechende tierfreie Versuchsmethoden und -verfahren entwickelt worden, sagt Renate Künast, Tierschutzbeauftragte der Partei. Sie kritisiert: "Deutschland ist beim Schutz von Tierversuchen Schlusslicht."
Der Verein "Ärzte gegen Tierversuche e. V." verweist darauf, dass neben den zwei Millionen Versuchstieren 700.000 weitere für Organentnahmen getötet werden. Schließlich würden weitere drei Millionen Tiere getötet, die gezüchtet, aber gar nicht benötigt wurden, schätzt Corina Gericke, stellvertretende Vorsitzende des Vereins. Außerdem würden viele Tierversuche nicht den erhofften medizinischen Fortschritt bringen. Vielmehr komme die Wissenschaft auch ohne Tierversuche zum Ziel. Als Beispiel nennt Gericke die Suche nach dem Corona-Impfstoff. Hier seien Forscher weitgehend ohne Tierversuche ausgekommen.
Vor allem um Experimente an Affen wird erbittert gestritten. 2018 wurden in Deutschland nach Angaben des Bundeslandwirtschaftsministeriums insgesamt 3.228 Affen und Halbaffen als Versuchstiere "verwendet". Die meisten Affen werden für sogenannte Giftigkeitsprüfungen "verbraucht" und danach getötet. In diesen Versuchen wird getestet, ob Chemikalien, Arzneien oder Impfstoffe gefährliche Wirkungen haben könnten.
Kritiker wie der Deutsche Tierschutzbund bezweifeln deren Sinn und sehen darin "fragwürdige Experimente an unseren nächsten Verwandten im Tierreich". Tatsächlich reagiert die Öffentlichkeit oft schockiert auf Bilder, die Affen zeigen, deren Schädel mit Metallaufsätzen verschraubt sind. Die Tiere können dabei den Kopf oft stundenlang nicht bewegen, während sie Aufgaben lösen sollen. Mit Hilfe von Elektroden, die ins Gehirn eingeführt wurden, werden Reaktionen einzelner Nervenzellen gemessen. Ebenso schockierend sind die öffentlich gewordenen Bilder von geheimen Experimenten, bei denen Affen Dieselabgase einatmen mussten.
Im Mittelpunkt steht dabei ein Primatenzentrum in Frankreich nahe Straßburg. Zu den angebotenen Dienstleistungen gehören laut eigner Darstellung die "Lieferung von Zuchttieren (Makaken, Büschelaffen, Meerkatzen)" sowie die "Erstellung von Blut- und Plasma-Proben" und "vorklinische Studien". Tatsächlich ist das von der Universität Straßburg betriebene Zentrum schon seit langer Zeit vor allem eins - ein wichtiger Lieferant von Laboraffen für Abnehmer in Deutschland.
Lieferscheine und Abrechnungen, die Frontal21 vorliegen, weisen auf lang bestehende Geschäftsverbindungen zwischen dem Primatenzentrum in Frankreich und deutschen Abnehmern hin. Dabei prangern Tierschützer die Zustände nahe Straßburg seit Langem an. Auch weil angeblich Affen aus freier Wildbahn zu Zuchtzwecken genutzt worden seien, fordern sie dessen Schließung. Vom jüngsten Protestmarsch gibt es ein dreiminütiges Facebook-Video. Die Aktivisten fordern "Gerechtigkeit für die Affen", die in dem Zentrum "für Experimente ausgebeutet" und "an Versuchslabore in sieben Ländern verkauft" würden.
Frontal21 hat zahlreiche ehemalige Beschäftigte befragt, Fotos und Dokumente einsehen können. Fünf ehemalige Mitarbeiter erheben schwere Vorwürfe. Die Rede ist von drastischen Verstößen gegen das Tierwohl in den vergangenen 30 Jahren. Tiere seien wiederholt zusammengepfercht worden, hätten sich verletzt und hätten deshalb eingeschläfert werden müssen.
Die Universität Straßburg nimmt zu diesen Vorwürfen Stellung und erklärt: Die von Ihnen vorgetragenen angeblichen Tatsachen sind nur Bruchstücke, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden von Personen, die nur sehr wenig von Affenkunde und insbesondere von der Haltung der Tiere in sozialen Gruppen verstehen. Falls es in solchen Gruppen überraschend zu schweren Verletzungen kommt, wird ohne zu zögern eingegriffen.
Ein Forscher hat daraufhin gekündigt und das Zentrum verlassen. In einem Abschiedsbrief klagt er, dass aus dem Forschungszentrum ein Umschlagplatz für Versuchstiere geworden sei. Der renommierte Primatenforscher, der aus beruflichen Gründe anonym bleiben will, endet in seinen Brief mit der Bitte an die Geschäftsführung:
Zu den Vorwürfen des Primatenforschers erklärt die Universität: Ronald Noe ist vor Kurzem kontaktiert worden wegen seiner Äußerungen. Er hat daran nur noch eine sehr schwache Erinnerung und konnte uns keine präzisen Angaben mehr machen. Womöglich resultierten seine Äußerungen nur aus Konflikten mit Personal, das heute in der Einrichtung nicht mehr beschäftigt wird.
Außerdem hat die Redaktion die zuständige Präfektur in Straßburg informiert. Die ausführlichen Fragen der Redaktion, wie die Behörde das Affenzentrum überwacht hat und was die Kontrollergebnisse sind, beantwortet die Präfektur mit einem Satz: "Wir danken Ihnen für diese Informationen und möchten Ihnen mitteilen, dass diese Einrichtung entsprechend der gesetzlichen Vorschriften regelmäßig überprüft wird."
Eine große Zahl der Affen des Straßburger Primatenzentrum stammt aus Vietnam. Im Frühsommer 2008 wurde nach Rechnungen, die Frontal21 vorliegen, eine Ladung an Javaneraffen von Vietnam Richtung Frankreich versandt. Die 52 Affen gab es zum Spottpreis von zehn US-Dollar pro Tier. In einem Bericht warnte die französische Gesundheitsbehörde ANSES bereits im Jahr 2011, in Vietnam würden Laboraffen unter teils katastrophalen sanitären Voraussetzungen im großen Stil zu Spottpreisen produziert.
Julia Klöckner weiß, die Bundesregierung kann sich den Brüsseler Anforderungen nicht ewig entziehen. Einen Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof will die Ministerin unbedingt vermeiden. Doch ihre Ankündigungen bleiben vage. Die Gesetzesänderung soll noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten, erklärt sie gegenüber Frontal21, also angeblich bis zum Sommer 2021. Dann hätte die Bundesrepublik elf Jahre gebraucht, um das Tierschutzgesetz zu reformieren.
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