als Radio-Porträt auf NDR Info
von Robert B. Fishman
Valletta/Malta. Farah Abdi kam als psychisches Wrack in einem klapprigen Schlepperboot nach Malta. Zwei Jahre später arbeitet er als Übersetzer und Autor - und hat eine Rede vor den Vereinten Nationen gehalten. FORUM erzählt die unglaubliche Geschichte eines Flüchtlings.
Ein junger Mann steht auf dem Boulevard und schreibt eine SMS. Sein Iphone 5 ist mit glitzernden Swarovski-Steinen besetzt, seine Fingernägel sind akkurat in dunklem Grün lackiert. Die lockigen Haare fallen über rosa Kopfhörer. Vor zwei Jahren landete Farah Abdi mit mehr als 70 anderen Afrikanern in einem überladenen Boot auf Malta. Inzwischen hat er EU-Kommissarin Cecilia Malmström interviewt und vor den Vereinten Nationen gesprochen. Der 19-Jährige hat eine eigene Kolumne in der zweitgrößten Zeitung des Landes. „Ich werde auch bald von der Fashion Week in Valletta berichten", erzählt er. Schon als Grundschulkind in Kenia fühlt Farah, dass er anders ist. Er spielt mit Mädchen, liebt Bücher, Kunst und Mode. Die Lehrerin bittet seine Mutter zum Gespräch. „Mach' uns keine Schande", fleht sie ihn hinterher an - und schickt ihn auf eine Jungenschule. Zehn Jahre zuvor war die Familie aus dem kriegszerstörten Somalia nach Kenia geflohen. Tagelang liefen sie zu Fuß durch die Wüste. Nach einem Aufenthalt im Flüchtlingslager zogen die Eltern mit ihren beiden Söhnen in die Hauptstadt Nairobi, wo sie einen Elektroladen eröffneten. „Wir waren Mittelklasse, es ging uns gut", erzählt Farah. Sein Vater folgte der strengen Auslegung des Islam. Zweifeln verboten. Wenn die Kinder nicht spurten, setzte es Schläge. Die Mutter bot dem Jungen Halt und Trost. „Sie ist eine einfache, religiöse Frau", sagt Farah. Warum ihr Sohn so anders war, verstand auch sie nicht. 96 Prozent der Kenianer nennen Homosexualität in einer Umfrage „inakzeptabel." Schwule werden eingesperrt wie Verbrecher. Ihnen drohen bis zu 14 Jahre Haft. Im Nachbarland Uganda will der Präsident alle Homosexuellen hinrichten lassen.
„Alles erschien mir besser als das Leben im Käfig"Mehr als die staatliche Bedrohung quälte Farah das Unverständnis und die Zurückweisung der Eltern. In der Hoffnung „normal" zu werden, verabredete sich der Teenager mit Mädchen. „Jede Nacht habe ich Gott angefleht, er möge mich ändern", erzählt Farah. Vergeblich. Der junge Mann wollte sich nicht ein Leben lang selbst verleugnen und plante seine Flucht. Kurz vor seinem 17. Geburtstag schlich er unter Tränen aus dem Haus. Farah: „Ich hatte natürlich große Angst. Doch alles erschien mir besser als mein Leben in einem Käfig." Mut schöpfte er damals aus der Überzeugung, dass er eine ewige Lebenslüge nicht aushalten würde. „Wenn ich gelebt hätte, wie man es von mir erwartete - heiraten, Familie gründen - wäre es eine einzige Enttäuschung geworden. Für mich, für die Frau und für die Kinder." Farah will niemanden ins Unglück stürzen - und auch selbst glücklich sein. „Ich bin hoffnungslos romantisch", sagt er. Uganda - Sudan - Sahara - Libyen. Stationen eines Albtraums. Mit sieben anderen Flüchtlingen, darunter zwei Frauen, gelangte Farah in den Süden des Sudan. Eine bewaffnete Gruppe hielt die jungen Leute für „Spione des Nordens" und nahm sie gefangen. Sie mussten sich entkleiden, wurden ausgepeitscht und vier Tage in einen dunklen Raum gesperrt. Gegen Lösegeld kamen sie frei. In Khartum packten Menschenschmuggler 33 Flüchtlinge, unter ihnen Farah und seine Freunde, auf einen Pickup. Bewaffnete Milizionäre kassierten von jedem die erste Rate. „Die dunklen, kalten Augen des Bewachers jagen mir bis heute eisige Schauer über den Rücken", sagt Farah. Zwölf Tage dauert die Fahrt durch die Sahara. „Sie gaben uns mit Benzin vermischtes Wasser, damit wir möglichst wenig tranken", erinnert sich der junge Mann. „Als Mahlzeit gab es ein paar Nudeln oder ein Stück Brot. Wir hatten ständig Hunger." Wer unterwegs die weiteren Raten nicht bezahlen konnte, wurde in der Wüste ausgesetzt. Um alles auszuhalten, flüchtete sich Farah in Tagträume von einem Leben in Würde. Auch in Libyen gingen die jungen Flüchtlinge durch die Hölle. Dort stürzten Aufständische im Jahr 2011 mit westlicher Hilfe Diktator Muammar al Gaddafi. Seitdem wird das Land von Milizen beherrscht, die sich gegenseitig bekriegen. Bei den Flüchtlingen kassieren sie alle. Farah: „Die Schmuggler zeigten uns ihre Folterkeller, damit wir schneller bezahlen." Nachts sperrten die Fluchthelfer ihre lebende Ware in verlassene Gebäude: 100 Leute in einem stickigen fensterlosen Verlies ohne Toilette und Waschgelegenheit. Die zwei Frauen, die mit Farahs Gruppe unterwegs waren, wurden in einen anderen Verschlag gesperrt. Ab und zu wurden sie von bewaffneten Männern herausgeholt und missbraucht. Eine der beiden war hochschwanger. Irgendwie schafften es die jungen Leute bis zur libyschen Küste. Immer wieder wurden sie in schrottreife Boote gesteckt, aufs Meer gefahren, wieder eingefangen und zurückgebracht. Die Schlepper kassierten für jede Überfahrt. Doch irgendwann näherte sich den Schlepperbooten ein fremdes Schiff mit der rot-weißen Fahne Maltas am Heck. „Wir hatten panische Angst", sagt Farah. „Aber wir wussten auch, dass wir gerettet waren." Die maltesische Polizei brachte die Flüchtlinge in ein Lager. Farah war verängstigt, körperlich und psychisch am Ende: „Ich war total abgemagert. Ich sah nicht mehr aus wie ein Mensch." Eine Mitarbeiterin der maltesischen Flüchtlingsbehörde wurde auf ihn aufmerksam. Sie erkannte, dass der Jugendliche schwer traumatisiert war und brachte ihn zu einer Psychologin. Farah: „Das war das Geschenk meines Lebens." In der Therapie lernt Farah, sich anzunehmen wie er ist. Schwul. Schwarz. Religiös. „Heute stehe ich zu meinen Gefühlen", sagt er. „Ich weiß, dass ich all meine Eigenschaften nutzen kann, um mir einen Namen zu machen. Damit helfe ich mir und denen, die nach mir kommen." Farah faszinieren erfolgreiche Menschen, die sich zur Marke machen: „Ich will authentisch sein wie Oprah Winfrey, die schwarze Showmasterin." Sein Bruder habe ihm vorgeworfen, er sei materialistisch. „Ja, das bin ich", sagt er selbstbewusst. „Wieso auch nicht?". Ein Linienflug von Nairobi nach London kostet etwa 300 Euro. „Mich hat die Reise 10.000 Euro und fast das Leben gekostet.", blickt Farah auf seine Flucht zurück. „Ohne Visum im Pass ist es ist so gut wie unmöglich, legal in die EU zu kommen." Verbrecherbanden macht die Not der Menschen reich. Das Magazin Forbes zählt den Menschenschmuggel zu den am schnellsten wachsenden „Geschäftszweigen" weltweit. Geschätzter Umsatz 2010: 23 Milliarden Euro. Nur Drogenhandel bringt noch mehr. Farah hat in Malta Asyl erhalten. Er ist dankbar, in Europa leben zu dürfen: „Ich fühle mich geehrt und reich beschenkt von den vielen Möglichkeiten." Seine dunkelbraunen Augen leuchten. Geholfen haben ihm Bildung, höfliche Umgangsformen und das Beherrschen der Landessprache. In Kenia fühlte sich Farah als Schwuler diskriminiert - und in Europa als Afrikaner. „Verkäufer sind fast immer misstrauisch, wenn man als Schwarzer in einen Laden kommt", erzählt er. „Man kann ihre Gedanken förmlich lesen: ‚Der will bestimmt klauen!'" Entsetzt hat ihn eine Begegnung im Bus. Der Fahrer verlangte zusätzlich zum Ticket den Personalausweis. Als Farah entgegnete, dass im Bus doch die Fahrkarte reiche, befahl ihm der Schaffner auszusteigen. Farah weigerte sich, es kam zu einer Rangelei. „Ich hatte mich am Knie verletzt und lag am Boden", erinnert sich Farah. „Ich rief den anderen Fahrgästen zu: ‚Seht ihr, was dieser Busfahrer mit mir macht?'". „Gott sieht alles", antwortete ihm jemand. Die anderen schwiegen. Farah wird heute noch wütend, wenn er an diese Begebenheit denkt. Ihn ärgern Stereotype. Farah findet, dass Medien, Politiker und Behörden ein verzerrtes Bild von Migranten zeichnen. Als Invasoren, Ungebildete, Diebe und Schmarotzer. „Diesem Bild kannst du nicht entkommen. Nicht im Bus, nicht am Arbeitsplatz, nicht in Geschäften." Farah will sich für Menschenrechte einsetzen und ein gefragter Autor werden, der wichtige Themen aufgreift: „Ich liebe schöne Dinge. Ich bin aber mehr als ein Schwuler, der auf Glitzer steht." Viele Europäer halten Flüchtlinge aus Afrika wahlweise für bedrohliche Eindringlinge oder arme Menschen, die mit Steuergeldern durchgefüttert werden müssen. „Aber ich erzähle eine andere Geschichte", sagt Farah. „Die eines ehrgeizigen Träumers, der in Würde leben will." Er arbeitet in einem Restaurant und als Übersetzer im Auftrag der Regierung. Demnächst beginnt sein Studium im Fach „Internationale Beziehungen". Farahs Augen leuchten wieder. „Und eines Tages werde ich in Zürich meinen Traummann heiraten und einen Porsche fahren." Robert B. Fishman INFO Von Januar bis November 2014 sind nach Angaben der Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen UNHCR 163.368 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Fast 3.500 überlebten die Überfahrt nicht. Weltweit waren im vergangenen Jahr 50 Millionen Menschen auf der Flucht. Im Vergleich nimmt die Europäische Union nur wenige Schutzsuchende auf. Die meisten Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien bleiben zum Beispiel in Jordanien, dem Libanon und der Türkei. Im Kleinstaat Libanon ist etwa jeder vierte Einwohner ein Flüchtling. Mittel- und nordeuropäische Länder überlassen den Ansturm von Flüchtlingen meist den Küstenstaaten, in denen sie regelmäßig ankommen: Italien, Griechenland, Spanien und Malta. Dort werden die Schutzsuchenden teilweise zunächst inhaftiert, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies bereits verboten hat. Viele Städte, Gemeinden und Hilfsorganisationen in Deutschland suchen Ehrenamtliche, die sich um Flüchtlinge kümmern, zum Beispiel Kindern Deutschkurse geben, bei den Hausaufgaben helfen oder beim Ausbau der Unterkünfte mit anpacken. Interessierte können sich in Rathäusern, bei Flüchtlingsräten und den örtlichen Büros der Wohlfahrtsorganisationen (zum Beispiel Diakonie, AWO) informieren.