Lettland zahlt seit Jahresbeginn mit dem Euro
von Robert B. Fishman
Riga. „Die letzten Monate war der Euro kein Thema. Jetzt reden alle drüber“, wundert sich ein junger Mann in Lettlands Hauptstadt Riga. Die Plakate, mit denen die Regierung überall für den Euro wirbt, scheint kaum jemand zu beachten. Vor allem die jungen Leute sehen die vielen Veränderungen in ihrem kleinen Land pragmatisch. Man zerbricht sich den Kopf wenn es nötig ist.
Während die letzten Gäste schnell ihren letzten Kaffee austrinken, zählt die junge Frau hinter dem Tresen die Tageseinnahmen in einem Rigaer Altstadt-Café. Vor allem Ein-, Zwei- und Fünf-Cent-Münzen sortiert sie auf dem Tisch, zählt sicherheitshalber noch mal nach. Ab und zu fischt sie die vertrauten Lats- und Sentimi- Stücke aus den Münzhaufen und legt sie beiseite.
Lettland kommt in Europa an. Seit dem 1. Januar sind die rund 2,2 Millionen Letten Bürger der Euro-Zone. Die Begeisterung wollte keinen Anfang nehmen. Anders als im benachbarten Estland, das den Euro schon ein Jahr lang hat, sprach sich eine deutliche Mehrheit (58% bei der letzten Umfrage im Dezember) gegen die Unionswährung aus. In keinem anderen Euroland stieß die Gemeinschaftswährung vor der Einführung auf so wenig Gegenliebe. Vielen Letten ist ihr Lat zu einem Symbol der 1991 wieder gewonnenen Freiheit geworden. Der Abschied fiel schwer. Mit einem Lied, das Tausende auf youtube angeklickt haben, verabschiedete das Sänger-Duo Aarzemnieki die lettische Währung: „Danke, kleiner Lat. Es ist die Zeit gekommen, Lebewohl zu sagen.“
Die Menschen fürchten Preiserhöhungen, wie in Frankreich, Spanien, Italien oder Deutschland. Dort verlieh die „BILD“-Zeitung der neuen Währung nach wenigen Wochen einen Spitznamen: Teuro. Auch Franzosen, Spanier, Italiener und zuletzt die Esten klagen über explodierende Preise vor allem für Dienstleistungen.
In Lettland sind alle Produkte Anfang Januar noch in Lat und in Euro ausgezeichnet. So kann jeder überprüfen, ob Regierung und Unternehmen Wort halten: „Es wird korrekt umgerechnet.“ In den ersten drei Wochen nach der Euro-Einführung beobachtete das Statistikamt „bei 92,7 % der Waren und Dienstleistungen keine Preisänderungen“. 3,6% Prozent der Produkte, darunter holländischer Käse, Quark und Wurst seien teurer, 3,7% (z.B. Buchweizen und Käse) billiger geworden.
Eine SIM-Karte fürs Handy kostet jetzt 3 Euro 41. Für Brötchen, einen Kaffee und anderer Alltagsbedarf zahlt man ähnlich krumme Beträge – für ein knappes Pfund des lettischen Kümmelschwarzbrots auf dem Zentralmarkt zum Beispiel 1 Euro 39. Die Verkäuferin braucht eine Weile, bis sie die passenden Ein-, Fünf- und Zehn-Cent Stücke zum Wechseln zusammengesucht hat. Euro-Scheine hält sie wie viele Supermarkt-Kassiererinnen mit kritischem Blick gegen das Licht. Echt? Wer weiß.
Die meisten Kredite lauteten in Lettland schon vor der Währungsumstellung auf Euro. Obwohl der Lat seit 2005 stabil an den Euro gekoppelt war, misstrauten die Banken der lettischen Währung. Nach Angaben der deutschen Außenhandelsorganisation Germany Trade and Invest GTAI kosteten Kredite in Lats fast doppelt so viel wie in Euro.
In anderen osteuropäischen Ländern haben sich Schuldner mit solchen Fremdwährungsdarlehen ruiniert: Als die ungarische Währung Forint gegenüber den westlichen Währungen abstürzte, konnten viele Ungarn die Raten für ihre in Euro oder Schweizer Franken aufgenommenen Kredite nicht mehr bezahlen. Das kann in Lettland nicht mehr passieren.
„Only Cash“, mault die Blonde hinter der dicken Glasscheibe am Schalter der Postbank. Sie kann es sich erlauben. Die Kunden zahlen hier für Euro-Starter-Kits mit Münzen im Wert von 14 Euro schon 19 Euro und für die Sammelmappen mit den Lats-Geldstücken weit mehr als den Umtauschkurs. Die Käufer hoffen auf steigenden Sammlerwert.
Lettlands Wirtschaft erholt sich allmählich von der schweren Krise. Nach Schätzungen der EU-Kommission wird Lettland auch 2014 wieder mit rund vier Prozent die höchste Wachstumsrate in der Europäischen Union ausweisen.
Gnadenlos hat die konservativ-liberale Regierung ihr Land für den Eurobeitritt zurechtgespart. Nach dem Wirtschaftsboom zu Beginn des Jahrtausends verlor Lettland in der Finanzkrise von 2008 bis 2010 mehr als ein Fünftel seiner Wirtschaftskraft.
Zuvor hatten die drei baltischen Länder einen beispiellosen Wirtschaftsboom hingelegt. Wie im Westen hatten Banken großspurig Immobilienkredite verteilt. In Riga und dem vor allem bei russischen Investoren beliebten Seebad Jurmala schossen Luxusapartments und Villen wie die im Spätsommer die lettischen Pilze aus dem Boden. Die inzwischen unter Schutz gestellten historischen Holzhäuser am südwestlichen Stadtrand Rigas sollten Wolkenkratzern weichen. Die steigenden Immobilienpreise würden, so die Hoffnung, die Kredite refinanzieren. Geplatzt ist die baltische Blase wie die in Großbritannien, Spanien oder den USA.
Die Regierung reduzierte daraufhin die Ausgaben und erhöhte die Steuern. Fast jeder dritte Staatsangestellte verlor seinen Job. Staat und Privatwirtschaft kürzten die Gehälter um bis zu 40 Prozent. Die offizielle Arbeitslosenquote stieg auf 19 %.
Die Radikalkur freut zumindest die Wirtschaftsstatistiker: Lettland schaffte auf Anhieb die so genannten Maastricht-Kriterien: Die Staatsschulden liegen bei 42 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Deutschland sind sie fast doppelt, in Griechenland mehr als drei Mal so hoch. Der Anteil der staatlichen Neu-Verschuldung am Bruttosozialprodukt betrug 2013 1,3 Prozent, deutlich weniger als die im Vertrag von Maastricht erlaubten drei.
Die Kehrseite: Fast 300.000 Menschen, mehr als zehn Prozent der Bevölkerung zogen seit 2007 auf der Suche nach Arbeit in den Westen. Viele Kinder blieben bei den Großeltern zurück. Auf dem Land leben kaum noch junge Leute.
Nun klagen viele Unternehmen über Fachkräftemangel. Vor allem technische Experten seien gesucht, berichtet die Deutsch-Baltische Handelskammer in Riga. Weil die rein schulische Berufsausbildung in Lettland zu wenig praktisches Wissen vermittle, will die Kammer zusammen mit dem lettischen Bildungsministerium eine duale Berufsausbildung nach deutschem Vorbild aufbauen. Die jungen Leute sollen ihre Berufe in den Betrieben lernen und parallel dazu die Berufsschule besuchen.
Mit einem Trick lockte die lettische Regierung allein im vergangenen Jahr mehr als eine viertel Million Lats (rund 358.000 Euro) in ihr 2,2 Millionen Einwohner kleines Land: Wer mehr als 250.000 Euro in lettische Aktien, mehr als 50.000 Euro direkt in ein Unternehmen oder mehr als 100.000 Euro in eine Rigaer Immobilie investiert, bekommt für fünf Jahre eine Aufenthaltserlaubnis. Mit der kann der Investor in allen Schengen-Staaten frei reisen. Mehr als 3000 Russen, 445 Chinesen sowie einige Usbeken, Ukrainer und Kasachen kauften sich so 2013 eine Eintrittskarte nach Europa. 80 Prozent des Geldes floss in Immobilien. Die neue lettische Regierung will nun das „Eintrittsgeld“ auf 750.000 Euro erhöhen.
Noch immer stehen in der Hauptstadt Riga viele Gebäude leer- manche davon in gutem Zustand und in Top-Lagen. Die Initiative „Free Riga“ sammelt auf ihrem Stadtplan im Internet unter http://freeriga2014.lv die Adressen ungenutzter Häuser. Fast 400 waren es Anfang Januar und täglich tragen Leute weitere ein. „Free Riga“ möchte die Eigentümer der leerstehenden Immobilien mit denen zusammen bringen, die sie gerne nutzen würden: Start-Up-Unternehmer oder Künstler, und Künstlerinnen, die Ateliers und Ausstellungsräume brauchen. „Hier funktioniert der Markt nicht“, ärgert sich Free-Riga-Aktivist Marcis Rubenis.
Der 28jährige spricht Deutsch, Russisch und fließend Englisch. Nach dem Wirtschafts-Studium ist er vier Monate durch Europa gereist. Anschließend hat er Rigas ersten Co-Working-Space eröffnet. In einer Wohnung vermietet er Arbeitsplätze stunden-, tage-, wochen- oder monatsweise an kreative Unternehmerinnen und Unternehmer. Wer mag, entwickelt hier mit Gleichgesinnten neue Ideen und sucht die neudeutsch so genannten Synergien: Arbeiten in kreativer Umgebung zu bezahlbaren Preisen.
Inzwischen ist der Liegenschaftsbetrieb der Stadt auf Free Riga 2014 aufmerksam geworden. „Die Stadt will die Steuern auf leerstehende Objekte erhöhen, um die Eigentümer zum Vermieten zu bewegen“, freut sich Marcis. Zu viele warten noch auf die nächste Immobilienblase, die die Preise für die Häuser wieder in die Höhe treibt.
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