Wir leben in komplizierten Zeiten, nicht wahr? Eine Dame mit Bart gewinnt den Song Contest. An der Berliner Humboldt-Universität unterrichtet jemand, der sich weder als Mann noch als Frau fühlt. Eine akademische Arbeitsgruppe entwickelt neue Wörter, die auf x enden und Geschlechteridentitäten aufheben sollen. Wenn Sie meinen, dass aktuelle Gender-Fragen hier in Mitteleuropa schon verwirrend seien, dann waren Sie noch nicht im nördlichen Hinterland Albaniens.
Dort gibt es ein sehr klares Männerbild: Der Mann ist das Familienoberhaupt, der Ernäher. Seine Frau ist sein Eigentum. Sie wird mit ihm zwangsverheiratet und ist ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert - so sieht es der Kanun vor, das alte albanische Gewohnheitsrecht.
So weit, so simpel. Doch es gibt da eine Besonderheit, ein Schlupfloch im Kanun, das seit dem 15. Jahrhundert besteht: Wenn eine Familie keinen männlichen Erben hat, und die Töchter ewige Enthaltsamkeit geloben, wenn sie jeden Anflug von Weiblichkeit verstecken, dann dürfen sie selbstbestimmt leben. Man nennt eine solche Frau burrnesha, eingeschworene Jungfrau: Ihr Haar ist kurz, ihre Kleidung weit geschnitten. Jede Rundung soll darunter versteckt bleiben. Die burrneshë sehen aus wie Männer, also behandelt man sie auch wie solche . Sie dürfen wählen, fluchen und Waffen tragen - alles, was ihnen sonst verwehrt wäre. Es ist ein kleines Stück Freiheit, für das sie einen großen Preis bezahlen.
Kettenrauchen und Raki trinkenAuch Mark (gespielt von Alba Rohrwacher) hat ihn bezahlt. Die ersten Jahre seines Lebens hieß er Hana. Hana ist ein aufgewecktes Mädchen. Sie liebt es, mit ihrer Schwester Lila (Flonja Kodheli) zu singen und um die Wette zu laufen. Sie interessiert sich auch für die Jagd. Dem Vater geht das alles zu weit. "Das nächste Mal bringe ich dich um", droht er seiner Tochter, als er sie einmal beim Herumtollen überrascht.
Hana und Lila wird bald klar, dass sie so nicht weiterleben können. Sie entkommen ihrem Schicksal auf unterschiedliche Weise: Lila flieht mit ihrem Liebhaber ins weit entfernte Mailand. Hana bleibt - und wird zu Mark, zur eingeschworenen Jungfrau, zum Mann. Nun verbietet ihm niemand mehr, mit dem Gewehr zu jagen oder auf dem Feld zu arbeiten. Mark trinkt den Raki in großen Schlücken und raucht im Akkord. 14 Jahre lang lebt er so. Dann stirbt sein Vater, und Mark beschließt, Albanien zu verlassen.
Eines Tages steht er bei seiner Schwester in der Wohnung. Lila ist nicht begeistert: Sie hat mittlerweile eine Tochter, Jonida, und die weiß nichts von Mark und seiner Vorgeschichte. Trotzdem lässt ihn Lila ein paar Tage bei sich wohnen. Langsam findet die Familie wieder zueinander - und Mark zurück zu Hana.
"Vergine giurata" basiert auf dem gleichnamigen Buch der albanischen Schriftstellerin Elvira Dones, die 1988 aus ihrer kommunistischen Heimat geflohen ist und viele Jahre in der Schweiz lebte, bevor sie 2004 weiter in die USA zog. Dones hat sich lange mit dem Phänomen der eingeschworenen Jungfrauen beschäftigt und sogar eine Dokumentation mit dem Titel "Vergini giurate" über die letzten heute noch verbliebenen burrneshë gedreht.
Nun hat die italienische Regisseurin Laura Bispuri den Roman verfilmt. In zurückhaltenden, grobkörnigen Bildern zeigt sie, wie sich ihre Hauptfigur aus einer Rolle löst, der sie nicht mehr entsprechen kann und will. Als Hana in Mailand ankommt, wirkt sie in der bürgerlichen Behausung ihrer Schwester wie ein Relikt aus der Steinzeit. Doch bald stellt sich die Frage, wer emanzipierter ist: Hana, die sich in einer archaischen Gesellschaft behauptet und gezeigt hat, dass sie alle männlich besetzten Aufgaben problemlos meistern kann. Oder Lila, die unter der Fuchtel ihres Ehemanns steht und sagt, Sex sei wie Raki: Zuerst brennt er, und wenn man dann verstanden hat, worum es geht, wünscht man sich, man hätte nie damit angefangen.
Bispuri stellt die Körperlichkeit ihrer Figuren in den Mittelpunkt. Oft betrachtet sie die Protagonisten von hinten. Nicht ihre Gesichter geben Auskunft über ihre Gefühle, sondern die Körperhaltung. Ein Schwimmbad wird zum wichtigsten Schauplatz des Films: Hier untersucht die Kamera die halbnackten, schutzlosen Körper. Ihr Blick gleitet über eine haarige Männerbrust und tätowierte Frauenbeine, über muskulöse Oberarme und aufgeblähte Bäuche. Was davon ist normal? Was empfinden wir als schön?
Die pubertierende Jonida hält Hana zunächst für einen Freak. Allmählich erkennt sie jedoch eine Verbündete in ihr. Denn beide Frauen stehen an einem Punkt im Leben, an dem sie ihre Geschlechtlichkeit neu definieren müssen. Während Jonida als Synchronschwimmerin verbissen versucht, ihren Körper zu kontrollieren, jede Bewegung perfekt aussehen zu lassen, schön zu sein, ist Hana schon einen Riesenschritt weiter. "Wir sind freier als wir glauben", beruhigt sie Jonida, als die sich wegen ihrer schlechten Leistung beim Training grämt. "Wir haben die Freiheit, nicht unbedingt etwas sein zu müssen."
Das ist der Schlüsselschatz dieses stillen und ergreifenden Films. Es ist auch ein Satz, an den wir uns erinnern können, wenn uns in diesen gar so verwirrenden Zeiten bärtige Song-Contest-Gewinnerinnen oder Professx aus dem Konzept bringen.