Es ist ein düsterer Montag, der 28. Februar 1616. Dunkle Wolken hängen über dem Frankfurter Rossmarkt, es regnet in Strömen. Heute werden Vinzenz Fettmilch und sieben seiner Anhänger hingerichtet. Er war der Held der Frankfurter, jetzt stirbt er als Geächteter. Das hölzerne Schafott, auf dem später das Urteil vollstreckt wird, steht noch verlassen im Regen. Das Haus hinter der kleinen Bühne ist mit schwarzen Tüchern verhängt. Es ist kalt. Dann, gegen fünf Uhr früh, durchbricht trüber Fackelschein das dämmrige Grau. Die Frankfurter Ratsherren und die Meister der Zünfte betreten den Platz. Sie werden die Hinrichtung auf eigens für sie errichteten Gerüsten verfolgen. Wenig später kommen die einfachen Bürger. Sie stehen in Gruppen zusammen, tuscheln, warten. Gegen sieben Uhr hört man aus der Ferne die Trommeln und Pfeifen der hessischen und Mainzer Truppen. Sie ziehen von Westen über die Galluswarte heran. Die Soldaten bilden enge Reihen um das Schaffot. Ihre Lunten brennen in der fahlen Morgendämmerung. Es riecht nach Schwarzpulver.
Köpfe rollen über das helle HolzAuf holprigen Pferdekarren warten die Verurteilten. Blasse, dürre Gestalten, die lange Monate in den Aschaffenburger Kerkern hinter sich haben. Das Urteil wird vom schwarz verhängten Haus verlesen. Dann gehen die Scharfrichter ans Werk. Den Revoltenführern Vinzenz Fettmilch, Konrad Gerngroß und Konrad Schopp werden mit einem großen Schwert die zwei Schwurfinger von der rechten Hand abgeschlagen; anschließend ihre Köpfe. Einer nach dem anderen rollt über das helle Holz des Schafotts, hinterlässt blutige Schlieren. Wenige Augenblicke nachdem Fettmilchs Kopf zur Erde gerollt ist, bricht einer der führenden Patrizier, der Schöffe Adolf von Holzhausen, von einem Schlag getroffen, Tod zu Boden. Viele sehen darin ein Zeichen.
Und auf Fettmilch wartet noch eine besondere Strafe. Sein toter Körper wird in vier Hälften geteilt und anschließend in alle Himmelsrichtungen der Stadt aufgehängt: im Osten an den Riedhöfen, im Süden am Bettelbrunnen, im Westen am Rabenstein gleich neben der Mainzer Landstraße und im Norden in der Nähe der Friedberger Warte. Während ein Scharfrichter die Leiche zerteilt, zieht eine Trupp Söldner zu Fettmilchs Haus in der Töngesgasse und zerstört es bis auf die Grundmauern. Kein Neues soll dort je erbaut werden. An seiner Stelle errichtet man eine Schandsäule. „Für alle Zeit", so lautet das Urteil, sollen sich die Frankfurter daran erinnern, was der Kuchenbäcker Vinzenz Fettmilch getan hat.
Imposante Erscheinung, kleiner StatusVinzenz Fettmilch. Ein untersetzter, großer Mann mit rötlichen Haar. Zum Zeitpunkt seines Todes muss er Ende vierzig gewesen sein. Herrisch, massig, launisch, schlau, eitel, besessen und unerbittlich. Geboren wurde er um 1570 in Büdesheim. Erst als er eine Frankfurterin heiratet, wird er Bürger der Stadt. So imposant seine Erscheinung, so mickrig ist seine Position in der städtischen Gesellschaft. Als „Eingeplackter" arbeitet der ehemalige Soldat als Schreiber in der Reichskanzlei zu Frankfurt. Er verdient wenig und hat einen Vorgesetzten, den er und die breite Masse inbrünstig hassen: Laurentius Pyrander, Leiter der städtischen Kanzlei. Der Patrizier ist berühmt für seine Bestechlichkeit. Hochnäsig soll er gewesen sein, ein Sinnbild für das, was schon seit Jahren in Frankfurt schief läuft. Denn die Stadt der Bürger durchzieht eine gläserne Wand. Denn nur die reichen Bürger, die Patrizier, leiten den Geschicke der Stadt. Fettmilch lässt sich oft in seiner Stammkneipe, einer Weinwirtschaft in der Gelnhäuser Gasse, über die feinen Herren aus. Sein Status ist nicht schlecht, er gehört zum bürgerlichen Mileu, aber die Stadtpolitik gefällt ihm nicht. Doch nicht der Sinn nach Gerechtigkeit treibt ihn um, sondern purer Neid. Frankfurt ist seit dem Hochmittelalter eine freie Reichstadt, ihre Bürger sind nur dem Kaiser untertan. Eine Bürgerrepublik; Insel in einem Meer von kleinen und größeren Monarchien. Den Bürgern ist es erlaubt, zweimal im Jahr Messen in Frankfurt zu veranstalten. Sie sind freie Menschen in einer Welt, die von Abhängigkeiten bestimmt ist; in der einfache Bauern immer noch Leibeigene irgendwelcher Fürsten sind. Die Bürger haben eigenen Besitz, sie müssen ihre Kinder nicht an die Dienstleute des Kaisers verheiraten. Sie sind keinem Fürsten, nur dem Kaiser pflichtschuldig. Frankfurt, das Handelszentrum Mitteleuropas. Frankfurt, die kaiserliche Wahlstadt. Frankfurt, die privilegierte Stadt, mit privilegierten Bürgern. Doch davon wissen damals die wenigstens Bewohner etwas.
Niemand rechnet mit Fettmilchs HassKaum einer der Bürger kann lesen oder schreiben. Deshalb gehört es ebenfalls zu den Privilegien der Bürger, zu besonderen Anlässen, wie beispielsweise einer Kaiserwahl, ihre Privilegien vorgelesen zu bekommen. Damit jeder Frankfurter um seine Rechte weiß. So weit die Theorie. In der Praxis hat die öffentliche Verlesung seit rund hundert Jahren nicht mehr stattgefunden. Der Stadtrat hält die Privilegien unter Verschluss. Er verwahrt die Kisten mit den Listen sorgsam im Ratskeller. Aus gutem Grund. Die Ratsherren haben es sich schon seit Jahrhunderten in ihrer Stellung gemütlich gemacht. Die Patrizier verteilen die Sitze nach Gusto. Sie haben kein Interesse daran, dass andere Teile der Bürgerschaft etwas davon erfahren. Auch, weil sie mächtig Dreck am Stecken haben. Denn die Ratsherren verspekulieren im großen Stil städtische Gelder. Die Messestadt ist hoch verschuldet. Sie wussten, dass es ihre Jahrhunderte gepflegten Seilschaften in große Gefahr bringt, wenn die Fehlinvestitionen ans Licht kommen. Aber sie haben nicht mit Vinzenz Fettmilchs Hass gerechnet.
Frankfurts erster WutbürgerAls Schreiber fallen Vinzenz Fettmilch Rechnungen und Vermerke in die Hände. Er versteht ganz gut Latein. Der launische Mann, der ohnehin seinen Job hasst, ärgert sich über die Summen, die aus der städtischen Schatzkammer hinausfließen und im Nirgendwo versickern. Es ist bekannt: Patrizier und Fürsten gehen in der Judengasse ein und aus, nehmen dort regelmäßig Kredite auf. Fettmilchs Sozialneid treibt antisemitische Blüten. Er wittert einen Komplott zwischen den Geldleihern und den reichen Herren. Für ihn steht fest: Er wird das nicht mit sich machen lassen, er wird dem tristen Dasein im unteren Teil der Frankfurter Gesellschaft entfliehen. Er wird es „denen da oben" zeigen. Frankfurts erster Wutbürger war geboren. Aber er scheitert zunächst. Vergebens bewirbt er sich auf die Stelle als Hospital-Schreiber, schult schließlich um und wird Zuckerbäcker. Das ist zwar keine Handwerker-Zunft die Einfluss hat, aber immerhin. Die Geschäfte laufen gut. 1607 kauft er das Gebäude „Zum Hasen" in der Töngesgasse. Dort lebt er bis zu seinem Tod, gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern. Zufrieden ist er trotzdem nicht. Er will mehr. Mehr Ansehen, mehr Geld. Jahrelang wartet er auf die Chance, die bestehende Ordnung umzustürzen, die alten Machtstrukturen zu zerschlagen. Als im Jahr 1612 Kaiser Rudolf II. stirbt und in Frankfurt ein neuer Kaiser gekrönt werden soll, kommt die richtige Gelegenheit. Denn während des großen Krönungsfestes kommt durch einen Zufall heraus, dass die Bürgerschaft Privilegien besitzt. Die Frankfurter haken nach. Der Rat hält sich bedeckt, vertröstet. Darauf hin richten die Bürger ihre Bitte an den neuen Kaiser Matthias, doch der will sich nicht einmischen, verlässt unbemerkt die Stadt. Und der Rat? Der versucht, die Situation auszusitzen. Ein fataler Fehler und Fettmilchs große Stunde.