Rudolf Zeretzki hatte einen Traum. Wenn er irgendwann in Rente ist, so dachte er sich, lebt er an der Ostsee. Im Sommer fährt er dann mit dem Bötchen rum, im Winter legt er die Füße hoch. Seine Kollegen haben sich die Überstunden schwarz auszahlen lassen. Er nicht. „Ich habe immer zu meinem Chef gesagt: Alles versteuern. Das geht alles in meine Rente." Herr Zeretzki. Abgekämpft sieht er aus. Etwa 1,70 Meter groß, Haar, das mal blond war, trägt er in den Nacken zurückgekämmt. Müde blaue Augen blinzeln durch eine Brille. Zähne hat er schon lange nicht mehr. Stattdessen trägt er Metallstummel im Mund. Er hat an den Sozialstaat geglaubt. Jetzt ist Herr Zeretzki 67 Jahre alt, in Rente und lebt in Armut. Denn es ist alles anders gekommen.
Ein gefragter Mann60er, 70er, 80er, das war eine gute Zeit in Deutschland. In den 70er Jahren gab es praktisch keine Arbeitslosigkeit. Die Auftragsbücher waren voll, es wurde viel gebaut. Anfang der 60er macht Zeretzki eine Lehre zum Elektroinstallateur. Schon als Azubi konnte er sich vor Arbeit kaum retten, hat ohne Gesellenbrief schon Baustellen alleine betreut. Die Arbeit klingelte damals wortwörtlich an der Tür, erinnert er sich. Da stand dann irgendein Typ von einer Firma aus der Nachbarschaft und hat ihm einen höheren Stundenlohn geboten. Hier eine Mark mehr die Stunde. Dort noch eine. Herr Zeretzki, der war ein gefragter Mann.
Bild-ZoomFoto: Markus Künzel Led Zeppelin und Deep Purple: Seine Plattensammlung aus alten Zeiten hat er behalten. Auch wenn sein Plattenspieler schon länger kaputt ist.Vier Firmenpleiten hat er mitgemacht und am nächsten Tag schon auf der Lohnliste eines anderen Unternehmens gestanden. 200 Stunden im Monat arbeiten war Standard. Abends, samstags und sonntags, Herr Zeretzki war immer unterwegs. Ende der 80er Jahre hat er im Jahr 80.000 Mark brutto mit nach Hause gebracht. Und jedem, der's nicht geglaubt hat, dem hat Herr Zeretzki zornig seine Gehaltsabrechnung vor die Nase geknallt. So viel gearbeitet, das habe er für die Anerkennung, sagt er. Und für die Rente. Nie hätte er geglaubt, irgendwann arm zu sein. Im Gegenteil.
Weit unter der Armutsgrenze730 Euro Einkommen hat der 67-Jährige im Monat. Damit liegt er 212 Euro unter der Armutsgrenze. Aktuell liegt die bei 942 Euro. Das Einkommen besteht zum größten Teil aus der Grundsicherung. In Hessen erhalten 47.912 Menschen im Rentenalter die Armenhilfe. Der durchschnittliche Rentner bekommt knapp hundert Euro mehr im Monat ausgezahlt. Die, die es sich leisten könnten, haben zusätzlich privat vorgesorgt. Zeretzki nicht. „In meiner Situation bin ich auch selbst Schuld", sagt er heute.
Mit den 250 Euro im Monat, die nach Abzügen der Fixkosten übrig bleiben, kauft er sein Essen. Vor zwei Jahren hat Herr Zeretzki sich eine neue Matratze gekauft. 200 Euro hat die gekostet. Vier Jahre hat er dafür gespart. Seine Cents im Portemonnaie warf er dafür in eine alte „Worschtdose". Jetzt schläft er auf ihr schlecht. Sein Leben ist ihm unbequem. Möbel braucht er nicht, aber gutes Essen. Einmal in der Woche geht er auf den Wochenmarkt auf der Konstabler Wache. Da kauft er beim Metzger drei Scheiben Blutwurst, Biokäse ohne Farbstoffe aus echter Milch. Ihm ist es wichtig, dass die Tiere anständig behandelt werden. Er findet es schlimm, wie mit Tieren umgegangen wird. Und er findet es auch schlimm, dass gesunde Ernährung für ihn ein Luxus ist.
Zwei Zimmer, kleine Küche, kleines Bad. 40 Quadratmeter. Im Wohnzimmer ohne Sessel oder Couch stehen eine Schrankwand und ein Schreibtisch. Das Laminat hat er selbst verlegt. Billiges Linoleum liegt in Flur und Schlafzimmer. Ein schmales Bett an der Wand, zwei baufällige Kleiderschränke gegenüber. Einige Hosen liegen sorgsam über einem Stapel Kartons. Über dem Bett rollt sich die Tapete von der Wand. Es ist ein bisschen feucht.
Im winzigen Flur hängen ein paar Familienbilder. Zeretzki mit dem Lieblingsenkel auf dem Arm, beim Angeln mit den Beinen im Meer, irgendwo in den Bergen mit seiner Tochter. Auf dem Bild mit der Enkelin auf dem Arm ist er noch blond. Das Haar ist voller, der Schnauzer dichter. Er lacht die Kleine an, die auf einem kräftigen Arm sitzt. Kräftig, das ist Herr Zeretzki nicht mehr.
Bild-ZoomFoto: Markus Künzel In einer alten "Wortschdose" sammelt er Geld für größere Anschaffungen.In der kleinen Wohnung im Frankfurter Gallus hängen nackte Glühbirnen von der Decke. Billigschrott will er nicht, sagt er. Dann lieber gar keine Lampenschirme. Ein anständiges Sofa kann er sich nicht leisten. Dann lieber gar kein Sofa. Ein alter Bürostuhl ist die einzige Sitzgelegenheit in der Wohnung. Er lebt allein. Wie konnte es so weit kommen?
Bild-ZoomFoto: Markus Künzel Lieber karg als billig. Herr Zeretzki hat eiserne Prinzipien.Der Anfang vom Ende. Das war für Rudolf Zeretzki ein Unwohl-Sein im Jahr 1989. Damals sanierte er für eine Firma Altbauwohnungen in Frankfurt, verlegte Leitungen neu. Er war plötzlich ständig schlapp, ihm war schwindelig. Diagnose: Tuberkulose. Ausfall für ein Jahr, von den Medikamenten bekam er eine chronische Magenentzündung. Er habe sich wohl auf einer der Baustellen damit angesteckt, vermutet er. Sein Chef kündigte ihm damals und Herr Zeretzki dachte sich. „Abgehakt. Dann suche ich mir was neues." Auf Klagen hatte er keine Lust. Bisher hatte er immer einen neuen Jobs gefunden. Aber die Zeiten haben sich geändert.
Der Jugendwahn setzt einDer Arbeitsmarkt strauchelt. Durch die Ost-Öffnung strömten viele Arbeiter ins Land, die seine Arbeit auch für weniger Geld machten. Der Lohndruck stieg sowie die Arbeitslosenzahlen und Zeretzki machte eine Umschulung zum Elektroniker. Die auf dem Arbeitsamt sagten: „Machen sie das unbedingt, Herr Zeretzki! Elektroniker werden dringend gesucht!" Und er dachte: „So, eine Karrierestufe weiter. Jetzt geht es erst richtig los!" Zunächst sah es auch gut aus. Gesellenbrief gemacht, nahtlos eine neue Stelle bekommen. Dann: Baukrise. Die Firma ging pleite. 1992 war das. Die Arbeitslosenquote lag bei rund 9,9 Prozent. Er ging wieder zum Arbeitsamt, dort sagten sie: „Herr Zeretzki, ihrer Berufserfahrung müssen wir gar nicht bei der Vermittlung helfen, Sie finden schon was!" Doch Herr Zeretzki fand nichts mehr. 42 Jahre alt war er damals.
Zeretzki hat Pech gehabtMitte der 90er Jahre hatten die Unternehmen die Auswahl und haben sich meist für die jüngeren Bewerber entschieden, erklärt Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung. Auf die Alten konnte man verzichten. In der ersten Hälfte der 90er Jahre ging fast jeder Zweite in Frührente, um Platz für die nachdrängende Generation zu machen. Die Chancen für einen Mann jenseits der 35 waren aussichtlos. Jugendwahn nennt Weber das in der Retrospektive. Pech gehabt sagt dazu Herr Zeretzki. Er ist in die falsche Zeit geraten.
Mit der Arbeitslosigkeit kam Rudolf Zeretzki nicht klar. Die leeren Stunden am Tag begann er mit Bier zu füllen. Bier, nie Schnaps. Er brauchte dringend einen Job. Jeden Monat stand er beim Arbeitsamt auf der Matte. Er war sauer. Er war verzweifelt. „Ihr seid dafür da. Ihr seid eine Behörde. Ihr müsst mir helfen." Dann 1995 ein erneuter Versuch. Zeretzki macht eine Ausbildung zum PC-Wartungstechniker. Ein Jahr sollte die dauern, bei einer Tochterfirma von Mercedes. „Das ist die Zukunft", sagte man damals beim Arbeitsamt. Doch die Zukunft fand ohne ihn statt.
Wählen geht er nicht mehrNach knapp einem Jahr kamen Männer in Anzügen von der Deutschen Bank in die Klasse. Sie suchten Leute, die sie für ihr Unternehmen weiter ausbilden konnten. Von den 30 Auszubildenden nahmen die Herrn 23 mit. Keiner von denen war älter als 35. Herr Zeretzki war nicht dabei. Nach Ende der Ausbildung hat er dann einen Entzug gemacht. Anschließend hat er noch zwei Jahre gesucht - vergeblich. Seit dem macht er einen großen Strich über seinen Wahlzettel und einen weiten Bogen um Alkohol. Er ist nun seit 18 Jahren trocken.
Herr Zeretzki arbeitet. Ehrenamtlich. In seiner Schrankwand im Wohnzimmer liegt eine kleine Anstecknadel für 10.000 Stunden ehrenamtliches Engagement. Irgendwo hat er noch die Urkunde. Er hat dann doch noch eine Ausbildung gemacht: zum Suchtkranken-Helfer. An die Ostsee kommt er einmal im Jahr, mit seiner Selbsthilfegruppe. Dann mieten sie sich eine kleine Ferienwohnung, finanziert durch Spenden. An seinem Pinnbrett im Flur seiner kleinen Wohnung hängt ein Lottoschein. Für den Einsatz von 5 Euro kann man 1.000 Euro gewinnen. Mehr Glück erwartet Zeretzki vom Leben nicht mehr.