Die Winterschwimmer an den Schweizer Seen sind hart im Nehmen: Bei Wassertemperaturen von wenigen Grad über Null löst der Gang in den See einen Kältereiz aus, der wahrlich nicht jedermanns Sache ist. Aber auch wenn es Winterschwimmer beim Einstieg ins Wasser wohl anders empfinden, so sind diese Seen doch gewaltige Wärmespeicher. Denn selbst im tiefsten Winter sinken die Temperaturen unter der Wasseroberfläche in der Regel nicht unter fünf Grad ab. Diesen Umstand möchten nun einige Schweizer Energieversorger nutzen, um Gebäude zu beheizen: Sie wollen Seewasser als Energiequelle für Wärmepumpen verwenden.
Heizen mit Wärme aus Wasser ist keine neue Idee. Bereits Ende der dreissiger Jahre liess die Stadt Zürich eine Wärmepumpe installieren, die mit Wärme aus der Limmat Heizenergie für das Rathaus erzeugt. Mit ihren vielen am Wasser gelegenen Städten bietet die Schweiz beste Voraussetzungen für dieses Konzept der Wärmeversorgung. Dennoch interessierte sich lange Zeit kaum jemand dafür, See- oder Flusswasser als Wärmequelle zu verwenden. Landesweit gibt es bis anhin nur wenige Dutzend Heizsysteme dieser Art, die meisten davon sind recht klein.
Mit dem Bemühen um eine Reduktion der CO 2-Emissionen haben nun jedoch einige grosse Energieversorger die Seethermie für sich entdeckt. Energie 360° aus Zürich zum Beispiel will die Wärme des bei Bern gelegenen Wohlensees, des Genfersees und des Zürichsees nutzen, um Heizenergie zu erzeugen. Die WWZ AG beabsichtigt, Teile des Stadtgebiets von Zug mit Wärme aus dem Zugersee zu versorgen. Noch in diesem Jahr sollen die ersten Gebäude mit Seewärme beheizt werden.
Heizenergie für Tausende HaushalteDas landesweit grösste Projekt entsteht aber derzeit am Vierwaldstättersee. Insgesamt 6800 Haushalte aus den Luzerner Vorortgemeinden Horw und Kriens will der Energieversorger Energie Wasser Luzern (EWL) mit Seewärme beliefern. Dazu entnimmt das Unternehmen dem Vierwaldstättersee in vierzig Metern Tiefe Wasser und pumpt es in eine Energiezentrale am Ufer. Über Wärmetauscher wird die Energie in einen zweiten Wasserkreislauf übertragen, der sie praktisch ohne Verluste in die Quartiere transportiert. Dort bringen dezentrale Wärmepumpen die Wärme unter Einsatz von Strom auf das gewünschte Temperaturniveau. Über Nahwärmenetze gelangt die Heizenergie schliesslich in die Häuser. Das um etwa drei Grad abgekühlte Seewasser wird in 25 Metern Tiefe zurück in das Gewässer geleitet. Die Arbeiten schritten gut voran, berichtet Patrik Rust, Mitglied der Geschäftsleitung von EWL. Im September dieses Jahres soll die Anlage in Betrieb gehen. Dann werden die einzelnen Quartiere nach und nach angeschlossen.
Wie andere Seethermie-Projekte auch hat die Luzerner Anlage neben der Versorgung mit Heizwärme noch eine zweite Aufgabe: Sie soll im Sommer zum Kühlen der Gebäude eingesetzt werden. Bei einer Wassertemperatur von fünf Grad brauche man dazu keine gesonderte Kältetechnik, sagt Rust. Über die Wärmetauscher wird die Wärme aus den Gebäuden in den See abgeleitet.
Doch wie wirkt sich das auf Flora und Fauna aus - wo doch im Zuge des Klimawandels die Wassertemperaturen ohnehin steigen? Rust verweist darauf, dass dem Wasser im Winter deutlich mehr Wärme entzogen als im Sommer eingetragen werde. So entstehe eine Temperatursenke, die durch die bei der Kühlung anfallende Wärme nicht wieder ganz gefüllt werde. "Unter dem Strich ist unser System sogar positiv für die Gewässerökologie, weil wir damit der Erwärmung durch den Klimawandel entgegenwirken", erklärt er.
Leiden Tier- und Pflanzenwelt?Alfred Wüest vom eidgenössischen Wasserforschungsinstitut Eawag bestätigt die Aussage von Rust. Für das Heizen werde den Seen fünf bis zehn Mal mehr Wärmeenergie entnommen, als beim Kühlen der Gebäude wieder in das Wasser gelange, sagt der Wissenschafter. Angesichts der gewaltigen Wassermassen in den Seen sind die Auswirkungen der thermischen Nutzung ohnehin begrenzt. Die Eawag hat ausgerechnet, dass sich die Temperatur des Bodensees um maximal 0,05 Grad verändert, wenn dessen Wärme- und Kältepotenzial umfassend genutzt würde. Dort, wo Wasser entnommen oder eingelassen wird, sind die Abweichungen natürlich höher - in unmittelbarer Nähe grösserer Anlagen könnten sie einige Zehntelgrad betragen. Aus ökologischer Sicht seien solche Werte aber unproblematisch, sagt Wüest. Erst bei einer lokalen Erwärmung oder Abkühlung um etwa ein Grad könne es unter Umständen zu Schäden an Tier- und Pflanzenwelt kommen.
Das landesweite Potenzial der Seethermie ist gross, wie Studien der Eawag zeigen. "Mit Ausnahme sehr dicht besiedelter Gebiete wie dem Raum Zürich könnten die grossen Seen deutlich mehr Wärme und Kälte liefern, als von den Anrainern benötigt wird", sagt Wüest. Gerade tiefe, wasserreiche Seen wie der Bodensee, der Genfersee, der Neuenburgersee oder der Lago Maggiore bieten gute Bedingungen für die Technologie. So könnten gemäss dem Amt für Umwelt des Kantons Thurgau etwa dem Bodensee auf Schweizer Seite jährlich 2800 Gigawattstunden Heizenergie entnommen werden. Damit liesse sich der gesamte Wärmebedarf aller am Bodensee gelegenen Schweizer Gemeinden, der sich auf 1200 Gigawattstunden beläuft, problemlos decken.
Allerdings sind Seethermie-Systeme sehr teuer; die Leitungen, Wärme- und Wasserpumpen, Wärmetauscher und weitere Installationen erfordern hohe Investitionen. Dazu kommen die Kosten für Betrieb und Unterhalt. "Gaskessel sind natürlich viel günstiger", sagt Patrik Rust. Verglichen mit anderen klimafreundlichen Heizsystemen wie Erdwärmepumpen oder Biogasanlagen sei man aber kostenseitig durchaus auf Augenhöhe. Dennoch: Bis zu fünfzig Jahre wird es laut Rust dauern, bis sich die Investition des Versorgers amortisiert hat.
Eine Alternative für den SommerGünstiger wäre es, das Seewasser nur im Sommer zum Kühlen zu nutzen, da dann weniger Technik installiert werden muss. Das geschieht zum Beispiel in Genf, wo der Palais des Nations der Uno und viele andere Gebäude in der Stadt im Sommer so auf angenehme Temperaturen gebracht werden. Der Nutzen für das Klima - also die durch Seethermie eingesparten CO 2-Emissionen - ist damit aber um ein Vielfaches geringer. Zudem ist fraglich, ob dieses Modell wirklich wirtschaftlicher ist als eine ganzjährige Nutzung der Seewärme - schliesslich müssen Investitionen, etwa in die Rohrleitungen oder in die Wärmetauscher, dann allein über die Erlöse aus dem Kühlen refinanziert werden.
Wärmepumpen benötigen eine Kilowattstunde Strom, um drei bis vier Kilowattstunden Heizwärme zu erzeugen. Das ist sehr klimafreundlich, weil der Strommix der Schweiz äusserst CO 2-arm ist. Allerdings ist die Schweiz bereits heute im Winterhalbjahr auf Stromimporte angewiesen, unter anderem aus Deutschland. Wegen der vielen fossilen Kraftwerke in der Bundesrepublik verschlechtert sich die Klimabilanz der Stromversorgung in der kalten Jahreszeit daher. Der Zubau elektrischer Wärmepumpen - egal, ob sie mit Seewasser, Erdwärme oder Wärme aus der Umgebungsluft betrieben werden - lässt den winterlichen Strombedarf steigen. "Damit wächst die Abhängigkeit von Importen, keine Frage", sagt Diego Hangartner vom Zentrum für Integrale Gebäudetechnik der Hochschule Luzern. Zumindest im Hinblick auf die Klimaerwärmung ist das jedoch nur ein geringfügiges Problem. Dies, weil der ökologische Vorsprung einer Wärmepumpe gegenüber fossilen Heizungen selbst mit zunehmenden Importen immer noch sehr gross ist. "Alles in allem verursachen Wärmepumpen 80 bis 90 Prozent weniger CO 2-Emissionen als Gas- oder Ölheizungen", betont Hangartner.