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Von der Plage zur Delikatesse


Die Chinesische Wollhandkrabbe ist eine der erfolgreichsten Neozoen in Europa. Statt die invasiven Krebse einfach zu  entsorgen, werden sie heute – wie in Berlin die eingeschleppten Amerikanischen Sumpfkrebse – als regionale Leckerbissen vermarktet.

 

 

Von Ralf Stork

 

Rathenow Ende der 1920er Jahre: Die Kleinstadt am Unterlauf der Havel wird von einer Spezies heimgesucht, die der Großteil der Bevölkerung noch nie zu Gesicht bekommen hat. Jedenfalls nicht in dem Ausmaß: Am Mühlenwehr und anderen Wehren, auf Straßen, Plätzen und Wegen klettern Tausende Krebse übereinander. Die Körper sind zum Teil Handtellergroß. Mit ihren langen Beinen messen die Tiere bis zu 30 Zentimeter. Die Scheren vieler Tiere sind mit einem dichten Pelz bewachsen. Es handelt sich um Chinesische Wollhandkrabben (Eriocheir sinensis). Die Wollhandkrabbe war ursprünglich in Ostchina zu Hause und gelangte mit Frachtschiffen Anfang des 20. Jahrhunderts unbeabsichtigt in die Nordsee. Von dort breitete sie sich in kurzer Zeit in die  angeschlossenen Flusssysteme aus, besiedelte über die Elbe schließlich auch die Havel und die Stadt Rathenow.

 

Die Wollhandkrabbe ist ein gutes Beispiel dafür, wie der globale Handel gerade auf dem Wasserweg die unterschiedlichsten Arten in der ganzen Welt verteilt. Muscheln und auch Fische – etwa die invasive Schwarzmeergrundel – haften sich an die Schiffsrümpfe und werden so über weite Strecken transportiert. Die Ballasttanks großer Containerschiffe fassen zum Teil bis zu 100.000 Tonnen Wasser, das zur Stabilisierung der unbeladenen Frachtschiffe mitgeführt und zum Teil erst viele Tausend Kilometer später wieder abgelassen wird. Als Blinde Passagiere fahren darin viele Arten mit, von denen einige Individuen die weite Reise überstehen und so neue Lebensräume besiedeln können, die sie auf natürlichem Wege nie erreicht hätten.

 

Heute geht man davon aus, dass auch die Wollhandkrabbe so nach Europa gelangt ist. Nach ihrer weitgehend unauffälligen Ausbreitung, krabbelte sie in den 1920er Jahren dann in so großen Scharen aus dem Wasser, dass für alle sichtbar wurde, dass da eine eingeschleppte Art offenbar sehr erfolgreich Fuß gefasst hatte. In Rathenow wurden bald Fangeinrichtungen installiert, in denen die Tiere tonnenweise gefangen und später zu Tierfutter oder Schmierseife verarbeitet werden.


Krabben wurden zu Schmierseife verarbeitet

 

 „Bei den Wollhandkrabben kommt es in unregelmäßigen Abständen zur Massenvermehrung“, sagt Wolfgang Schröder. Schröder ist einer der wenigen verbliebenen Fischer an Havel und Elbe. Sein Betrieb auf dem Gahlberg in Strodehne teilt eine lange Geschichte mit den Krabben: „Beim ersten Massenauftreten wurden bei uns auf dem Hof die Krabben massenhaft verarbeitet“ sagt Schröder. Er selbst geht seit den 1990er Jahren regelmäßig auf Krabbenfang. Damals kam es zu einer ähnlichen Massenvermehrung wie im Anfang des 20. Jahrhunderts. Bis zu einer Tonne hat er damals am Tag aus den Reusen geholt. Zu der starken Vermehrung hat vermutlich beigetragen, dass die Wasserqualität von Havel und Elbe sich nach der Wende deutlich verbesserte.

 

Das Problem mit den eingeschleppten Krabben: Sie machen heimischen Arten das Futter streitig  und können so die Fischbestände dezimieren. Außerdem sind sie Überträger der Krebspest, einer für die meisten europäischen Krebse tödlichen Pilzerkrankung, die den Wollhandkrabben selbst aber nur wenig anhaben kann. (Wobei –heimische Flusskrebse wie der Edelkrebs sind in den vergangenen 100 Jahren fast vollständig von aus Amerika stammenden Arten wie Signalkrebs und Kamberkrebs verdrängt worden, die gegen den Krankheitserreger weitgehend immun sind).


Die Neozoen verstopfen die Reusen

 

Für Fischereibetriebe können die Wollhandkrabben zum echten Problem werden,  weil sie die Reusen verstopfen oder beschädigen und die Fische anfressen, die darin gefangen sind. Nach Berechnungen des Instituts für Binnenfischerei Potsdam-Sacrow lagen die Einbußen für die Havelfischer im Extremjahr 1995/96 durchschnittlich bei umgerechnet knapp 25.000 Euro. In den folgenden Jahren konnten die Einbußen durch das Verwenden stabilerer Reusen und durch angepasste Fangmethoden auf unter 10.000 Euro gesenkt werden.

 

Wolfgang Schröder holt aktuell einmal die Woche etwa 200 Kilogramm Wollhandkrabben aus den ehemaligen Aal-Reusen. Einen Köder braucht es nicht. Die Tiere krabbeln von ganz alleine hinein. Und ist erst einmal eine Krabbe gefangen, kommen weitere dazu, die vermutlich vom Geräusch der klackenden Scheren angezogen werden. Der Jahresertrag liegt derzeit zwischen 10 und 20 Tonnen.

 

Weil es anders als für Hecht und Zander kaum einen regionalen Markt gibt, musste der Fischer andere Abnehmer finden. In China und allgemein in der asiatischen Küche werden die Krabben als Delikatesse geschätzt. Seit den 1990er Jahren hat sich deshalb ein Handelsnetz etabliert, das bis nach Berlin reicht: Die Krabben werden lebend an die Betreiber asiatischer Restaurants verkauft oder an Händler, die die Krabben dann auf Groß-Märkten weiterveräußern. Der Preis je Kilogramm beträgt je nach Größe zwischen 5 und 15 Euro. Auch vom Land Brandenburg würde Schröder über die sogenannte Massenfischentnahme Geld dafür bekommen, dass er die invasive Art aus dem Wasser holt. Mit 40 Cent je Kilogramm fällt die Fangprämie allerdings eher  bescheiden aus.

Trotz ihrer regelmäßigen Fangzüge werden Schröder und andere Fischer den Bestand der Wollhandkrabbe nicht wirklich zurückdrängen können. Die Art ist etabliert und wird es auch bleiben. Da ist es das Beste, den Istzustand zu akzeptieren, aus der Not eine Tugend zu machen und einen Absatzmarkt für den ehemaligen Schädling zu schaffen.


Sumpfkrebse im Tiergarten

 

Im Berliner Stadtgebiet, nur ein paar Dutzend Flusskilometer die Havel stromauf, ist die Wollhandkrabbe schon weniger häufig. Zu weit ist von hier der Weg zu den für ihre  Fortpflanzung benötigten salzigen Wassern der Nordsee. Dafür ist in der Hauptstadt seit einigen Jahren eine andere Krebsart aktiv: Der Rote Amerikanische Sumpfkrebs (Procambarus clarkii) treibt bevorzugt in Berliner Parkanlagen sein Unwesen. Wie der Name verrät, ist der Krebs, der wie eine Miniaturausgabe des Hummers aussieht, eigentlich in Sumpfgebieten jenseits des Atlantiks zu Hause. Seit Kurzem gibt es aber auch große Bestände im Tiergarten und im Britzer Garten. Es sind die größten bekannten Vorkommen in Deutschland. „Die Sumpfkrebse wurden erstmals 2017 auffällig“, sagt Derk Ehlert, der Wildtierreferent der Stadt Berlin. Damals meldeten sich besorgte Bürger, weil ihnen beim Spazieren gehen im Park wanderfreudige Krebse über den Weg liefen, die auf der Suche nach neuen geeigneten Gewässern waren.

 

Anders als die Wollhandkrabben sind die Sumpfkrebse vermutlich bewusst in den Parkanalagen ausgesetzt worden. „Dass die Krebse auf natürlichem Weg nach Berlin gekommen sind, können wir jedenfalls ausschließen“, sagt Ehlert. Die Gründer der beiden Populationen können zum Beispiel Krebse gewesen sein, die von Aquarienbesitzern ausgesetzt worden sind. Für diese Theorie spricht der mit fünf Prozent überproportional hohe Anteil marmorierter Tiere. Die finden häufig als Fischfutter Verwendung, während hummerrote Exemplare in Restaurants auf dem Teller landen.

Parkanlagen sind allgemein ein beliebtes Ziel für illegale Aussetzungen: Regelmäßig werden im Tiergarten Rotwangen- und Gelbwangenschildkröten sowie Goldorfen ausgesetzt. Die meisten gebietsfremden Arten überleben in freier Wildbahn nicht oder breiten sich wenigstens nicht aus. Die Sumpfkrebse aber finden in den flachen schlammigen und relativ warmen Teichen ideale Lebensbedingungen und vermehren sich prächtig. „Seit 2018 werden die Krebse regelmäßig gefangen“, sagt Ehlert. Jeweils bis zu 20.000 Exemplare werden Jahr für Jahr aus den beiden Parkanlagen herausgeholt. Höchststand für den Tiergarten waren 2018 mit über 20.600 Sumpfkrebse. Im Britzer Garten wurden 2021 rund 17.000 16.985 Krebse gefangen, fast so viel wie zu Beginn des Fangens 2018 mit 17.480 Krebsen.

 

Wie die Wollhandkrabben sind auch die Sumpfkrebse in der Lage, über weite Strecken zu wandern und sich so neue Lebensräume zu erschließen. Derk Ehlert glaubt deshalb nicht, dass die invasive Art wieder komplett aus Berlin verschwinden wird. „Der Tiergarten hat Anschluss an die Spreegewässer. Die Tiere können daher leicht abwandern. Aber nicht zu handeln, ist auch keine Option.“

Einheimische Arten werden verdrängt

 

Die Chance, eine invasive Art wieder loszuwerden, besteht – wenn überhaupt - nur in einem sehr kleinen Zeitfenster kurz nach der ersten erfolgreichen Ansiedlung. Sobald die Art flächendeckend etabliert ist, kommen die Eindämmungsmaßnahme zu spät. So ist es zum Beispiel beim Waschbär, vom dem 1934 vier Exemplare am Edersee ausgesetzt worden waren; oder beim aus Nordamerika stammenden Kamberkrebs, der 1890 in der Oder freigesetzt worden war.

Ökologisch können auch die Sumpfkrebse einigen Schaden anrichten. Weil sie sehr hohe Bestandsdichten entwickeln und auch gerne Laich fressen, können sie die lokalen Bestände von Fischen und Amphibien erheblich dezimieren. Und auch die Sumpfkrebse sind Überträger der Krebspest, gegen die sie selbst weitgehend immun sind.

Immerhin - auch die Amerikanischen Sumpfkrebse werden in Berlin nicht einfach entsorgt, sondern einer sinnvollen Verwertung zugeführt. Aktuell kümmert sich ein Berliner Start up-Unternehmen mit dem schönen Namen „Holycrab“ um die Weiterverarbeitung.