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Studieren auf Pump: Corona und die akademische Spaltung

Bild: Universität für Bodenkultur Wien: "HS XX" (Attribution-NoDerivs License)

Gut eine Woche vor dem Start des Sommersemesters kam der Lockdown. Wie in allen Bereichen des öffentlichen Lebens galt es damit auch an den Hochschulen einen Ausnahmezustand zu ordnen: Ende März wurde der Semesterstart bundesweit verschoben, um die technische Infrastruktur und die Lehrveranstaltungen den neuen Gegebenheiten anpassen zu können. Veranstaltungen wurden kurzerhand auf digitale Formate umgestellt oder gar gestrichen, Bibliotheken standen nur noch digital und damit stark begrenzt zur Verfügung, die Mensen schlossen.

Aus epidemiologischer Sicht waren die Maßnahmen berechtigt. Der Haken ist nur: Die Handlungen orientierten sich vor allem an organisatorischen, strukturellen und institutionellen Fragen: Wann sollte das Semester starten? Wie kann die Lehre aussehen? Wie sollen Prüfungen absolviert und Abschlussarbeiten eingereicht werden? Weitgehend ausgeblendet blieben indes - ähnlich wie bei Kita- und Schulschließungen - die möglichen Auswirkungen auf die Studierenden, die in prekären Lebenslagen leben. Und diese Ignoranz setzt sich bis heute fort: Während in Windeseile mehrere Konjunkturpakete für die Wirtschaft in Milliardenhöhe vom Bundestag verabschiedet wurden, warten viele Studierende bis heute vergeblich auf finanzielle Unterstützung.

Maßnahmen zugunsten der Studierenden kamen zunächst lediglich von den Universitäten selbst: Die Abgabefristen für Haus- und Abschlussarbeiten wurden verlängert und das laufende Sommersemester wurde vielerorts nicht als Fachsemester gezählt. Auf diese Weise wollte man den Studierenden Freiräume schaffen, um entspannter in das außerordentliche Sommersemester starten zu können. Ohne finanzielle Absicherung allerdings fiel es vielen schwer, diese Zeit tatsächlich im Sinne des Studiums zu nutzen.

Hier offenbart sich ein zentraler Fehler im Umgang mit Studierenden im Allgemeinen, besonders aber in der Krise: Wer studiere, sei bereits privilegiert - wenn nicht jetzt, dann spätestens nach dem Studium - und für die anderen gäbe es ja das BAföG, so die offenbar weithin geteilte Annahme. Diese aber ist so oberflächlich wie verfehlt, denn die Finanzierungskonzepte und Problemlagen von Studierenden sind weitaus komplexer: Längst nicht jede*r bedürftige Studierende hat einen Anspruch auf BAföG und selbst jene, die es bekommen, können nur selten ihren gesamten Lebensunterhalt mit dem Bildungskredit bestreiten. Nicht jede*r Studierende hat gute Jobaussichten, erst recht nicht in einer Wirtschaftskrise. Und schließlich verfügt auch nicht jede*r Studierende über die nötige Resilienz, diese Krise in den eigenen vier Wänden - und damit womöglich allein - ohne Schwierigkeiten zu überstehen. Eine Erhebung der Universität Würzburg zeigt beispielsweise, dass über die Hälfte der befragten Studierenden negative Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit erwarten oder bereits erleben.[1]

Besonders betroffen sind die ohnehin ökonomisch und sozial schlechter gestellten Studierenden - auch, weil sich das Hochschulsystem für ihre Problemlagen erneut als blind erweist. Zwar mag die Zulassung an Universitäten und Hochschulen formal betrachtet egalitär sein, das Studieren ist es jedoch nicht. Diese Tatsache fand bei den Entscheidungen zur Unterstützung Studierender in der Krise wieder einmal keine Berücksichtigung.

Finanzielle Ungleichheit

Gerade die Einnahmen von Studierenden sind diverser, als es die vermeintliche Wahl zwischen Elternunterstützung und BAföG suggeriert. Selten genügt die eine oder andere Bezugsquelle für den ganzen Lebensunterhalt. Laut der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks erhielten im bislang letzten Erhebungszeitraum 2016 gerade einmal ein Viertel der Studierenden BAföG.[2] Im Schnitt bekamen sie 435 Euro - damit können sie kaum mehr als die durchschnittlichen Kosten für ein WG-Zimmer decken. Selbst die nach jahrelangen Forderungen endlich zum Wintersemester 2019/2020 beschlossene BAföG-Höchstsatzanpassung auf bis zu 861 Euro dürfte nur geringe Auswirkungen haben. Denn am Grundproblem des BAföG-Zugangs hat sich nichts geändert: Nicht wenige Studierende schrecken vor der mit dem Antrag verbundenen Bürokratie zurück, viele scheuen die Verschuldung - die Hälfte des ausgezahlten BAföG-Betrages wird als Zuschuss gewährt, die andere Hälfte muss nach dem Studium zurückgezahlt werden - und viel zu wenige erhalten aufgrund der zu geringen Elternfreibeträge überhaupt eine Bewilligung.

Doch auch von der finanziellen Unterstützung ihrer Eltern können nur die wenigsten Studierenden ihre gesamten Kosten decken: Im Durchschnitt erhalten sie von diesen 541 Euro pro Monat und liegen auch damit weit unterhalb der deutschen Armutsgrenze von derzeit 892 Euro für eine alleinstehende Person. Allerdings unterscheiden sich die Zuwendungen je nach Bildungsherkunft enorm: Während Studierende mit hoher Bildungsherkunft ihre Einnahmen zu 66 Prozent über die Eltern und nur zu 20 Prozent mit dem eigenen Verdienst decken, erhalten Studierende mit niedriger Bildungsherkunft lediglich 33 Prozent ihrer Einnahmen über die Eltern und 30 Prozent über den eigenen Verdienst.[3] Um das Studium und den Lebensunterhalt zu finanzieren, greifen einige Studierende auch in normalen Zeiten zusätzlich auf Studienkredite zurück, andere spenden Blutplasma. Fast zwei Drittel der Studierenden arbeiten neben dem Studium. Laut Studentenwerk insbesondere jene, die eine niedrige bzw. mittlere Bildungsherkunft haben.

Doch mit der Schließung von Kulturstätten, Geschäften und der Gastronomie brachen zahlreiche geringfügige Beschäftigungen weg. Mehr als 40 Prozent der Studierenden hierzulande verloren dadurch ihre Nebenjobs.[4] Davon sind insbesondere Studierende aus Arbeiter*innenfamilien betroffen, da diese häufiger fachfremd, also beispielsweise nicht als studentische Hilfskräfte an den Universitäten, arbeiten.[5]

Während die SPD schon zu Beginn der Coronakrise eine Öffnung des BAföGs forderte, verwies das Bundesministerium für Bildung und Forschung unter Anja Karliczek (CDU) lediglich auf ein Darlehen von bis zu 650 Euro über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), das im Zuge der Pandemie bis Ende März 2021 zinslos gestellt wurde[6] - eine Antwort, die auf der Annahme beruht, alle Studierenden trauten sich unabhängig von ihren Berufsaussichten in einer Krisensituation zu, sich (zusätzlich) zu verschulden.

Man ist geneigt, dem Bildungsministerium völlige Ignoranz zu unterstellen, forderten doch bereits Anfang April über 50 Jugendorganisationen aus Europa „Corona-Bonds" für junge Menschen: Die Finanzkrise 2007 habe gezeigt, dass gerade die Jugendarbeitslosigkeit in Folge einer wirtschaftlichen Krise hochschnelle. Erfahrungsberichte von Absolvent*innen aus den vergangenen Monaten bestätigen dieses Bild.[7]

Auch hierzulande forderten Studierendenvertretungen eine Soforthilfe in Höhe von 3000 Euro für drei Monate. Und doch sollten sich Studierende im Gegensatz zu Unternehmen, Solo-Selbstständigen sowie Kurzarbeiter*innen nicht auf sozialstaatliche Leistungen, sondern auf die Unterstützung durch Angehörige verlassen - oder besagte Kredite in Anspruch nehmen. Dabei waren auch diese längst nicht für alle zugänglich. Hinzu kommt, dass dieses Vorgehen die Ungleichheit ein weiteres Mal verstärkt: Wer ein finanziell gut ausgestattetes Elternhaus hat, braucht sich nicht zu verschulden. Wessen Eltern nicht in der Lage sind, ihre Kinder in dieser Notlage finanziell zusätzlich zu unterstützen, türmt den Schuldenberg weiter auf.

Allein bis zum Hinweis auf die KfW-Kredite verging bereits mehr als ein Monat des finanziellen Stillstands. Die ersten Zahlungen an Kreditnehmer*innen erfolgten wiederum erst Anfang Juni. Und der von Karliczek Ende April angekündigte Nothilfefond von 100 Mio. Euro, der Studierenden in „besonders akuter Notlage"[8] schnell und unkompliziert über die Studierendenwerke aushelfen sollte, ließ lange auf sich warten.

Die Verdichtung lebensweltlicher Ungerechtigkeit

Gleichzeitig wurde das Leben während des Lockdowns auch für die Studierenden teurer und umständlicher. Preiswerte Mahlzeiten in der Mensa, der Zugang zu bezahlbaren, wenn auch noch immer zu teuren Copyshops und die kostenlose Ausleihe von Büchern aus der Bibliothek sind für viele keine zusätzlichen Privilegien, sondern notwendige Voraussetzungen zum Studieren. All dies brach plötzlich auf unbestimmte Zeit weg. Für jene, die ohnehin an ihren Kapazitätsgrenzen lebten, wurde das Leben damit unbezahl- und unbestreitbar.

Dies mag übertrieben klingen, doch eben dort zeigt sich der tote Winkel akademischer Lebenswelten: Die Einnahmestruktur ist der am ehesten erfass- und sichtbare Kern der sozialen Ungleichheit unter den Studierenden. Von ihr aus ziehen sich feinere Armutslinien, die bis in die Krise hinein größtenteils verborgen blieben. Das ist kaum verwunderlich, denn es gibt kulturell noch immer keinen Raum, in dem finanzielle wie mentale Hürden ohne Scham kommuniziert werden können: Soziale Ungleichheit wird noch zu oft als individuelles Problem betrachtet, das im Laufe der Bildungsbiographie zu überwinden sei. Das aber ist ein gefährlicher Fehlschluss, der zu ihrer Reproduktion beiträgt.

Während im Zuge der Coronakrise relativ rasch, wenn auch längst nicht ausreichend, über die soziale Ungleichheit unter Schüler*innen diskutiert wurde, blieb ein solcher Diskurs für das Hochschulsystem größtenteils aus. Und während die unzureichende technische Ausstattung für digitales Homeschooling bei Schüler*innen umgehend thematisiert und schließlich sogar zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt wurden,[9] wurde ein eigener Laptop und ein ruhiges Arbeitszimmer bei Studierenden stillschweigend vorausgesetzt.

Doch in der Folge von Jobverlusten, geschlossenen Bibliotheken und fehlender staatlicher Hilfe verloren Studierende nicht nur ihre Zugänge zu kostenlosen Arbeitsorten, sondern teils auch Wohnungen oder WG-Zimmer. Einige zogen zurück zu den Eltern und konnten teils aufgrund der schlechten Internetverbindung dort nur mit Ton an Videoseminaren teilnehmen. Manch andere schalteten aufgrund fehlender Laptops nur per Smartphone zu, was de facto kein richtiges Mitarbeiten ermöglicht. Während einige Studierende also ohne Probleme auf Home-Office umstellten, waren andere schlichtweg arbeitsunfähig. Und während einige Studierende weiterhin Zuwendungen von den Eltern erhielten, rangen andere in dünn besetzten Arbeitsämtern um den Status des Teilzeitstudierenden auf Hartz IV - denn allein dieses Armutszeugnis stellte sich in der Krisenzeit als wirksamste Alternative heraus.

Es ist nicht so, dass Studierende sich nicht bemerkbar gemacht hätten: durch Gremienarbeit, Petitionen und nach Lockerung der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus auch durch Großdemonstrationen. Nur Gehör fanden sie nicht.

Erst Mitte Juni, fast drei Monate nach Beginn des bundesweiten Lockdown, wurden die als akut und schnell angekündigten Überbrückungshilfen des BMFB konkret: Seitdem können Studierende Nothilfe bei ihren Studierendenwerken beantragen - im Gegensatz zum KfW-Kredit sogar unabhängig von ihrem Alter und ihrer Semesterzahl.[10] Und doch fällt die Kritik erneut laut aus: Das Problem ist nicht nur, dass bis zur ersten Ausschüttung mehr als drei Monate vergangen sind. Wer dem zugeordneten Studierendenwerk diverse Daten, unter anderem seine vollständigen Kontoauszüge seit Februar und gegebenenfalls das Kündigungsschreiben des Arbeitgebers vorlegt, kann nun bis zu 500 Euro pro Monat bekommen. Die Voraussetzung ist allerdings: Das Konto ist blank. Denn die Nothilfe sieht lediglich vor, das Konto der Antragsteller*innen auf 500 Euro aufzustocken. Wer noch 300 Euro hat, bekommt 200 Euro. Wer 450 Euro hat, nur 50. Wer sich also bis zur ersten Ausschüttung Anfang Juli Geld geliehen hat, wessen Nebenkostenabrechnung ein Plus einbrachte oder wer sein Fahrrad verkauft hat, um zu überleben, hat schlichtweg Pech. Ganz abgesehen davon, dass mit 500 Euro im Monat in keiner deutschen Uni-Stadt die Lebenskosten bestritten werden können.

Fest steht: Die soziale Ungleichheit wird nicht mit dem Zulassungsbescheid zu einer Hochschule abgelegt. Dass Studierende von vornherein als wohlhabend gelesen werden - entweder qua Herkunft oder qua angeblich guter beruflicher Perspektive -, ist ein Aspekt, der wirklicher Egalität an Universitäten und Hochschulen im Weg steht. Dass der Großteil der Studierenden die Universität mit einer hohen formalen Bildung verlässt, schützt sie weder vor Prekarität, noch heißt dies, dass sie aus gut situierten Verhältnissen kommen. Im Gegenteil macht es die Problemlagen jener unsichtbar, die mit ebensolchen Realitäten zu kämpfen haben. Die unzulängliche Reaktion des Bildungsministeriums angesichts der Not vieler Studierender reproduziert diese Ungleichheiten - und offenbart einen Missstand, der dringend behoben werden muss. Fragt sich nur, wann diese Erkenntnis endlich auch dort ankommt.

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