Vielen in der Ukraine geht es heute wirtschaftlich viel besser als vor fünf Jahren. Doch die Wiederwahl von Präsident Petro Poroschenko ist nicht ausgemacht. Sollte sein Konkurrent, der Komiker Selenski gewinnen, könnte Putin an Boden gewinnen.
Hinter den Tischtennisplatten befindet sich der Fitnessraum, durch einen langen Flur gelangt der Besucher schließlich in eine durchgestylte Kantine. Darüber liegen die Büros, in denen junge Mitarbeiter in bunten Hemden vor ihren Rechnern sitzen. Was aussieht wie ein Berliner Start-up, ist der Technologiepark des Unternehmens Softserve am Stadtrand von Lviv (Lemberg) im Westen der Ukraine.
IT-Expertin Tetiana Kuz führt durch das Gebäude und schwärmt von den Cafés, Bars und Clubs in der Stadt. „Wir sind erfolgreich und stellen ein", sagt die 31-Jährige Unternehmenschefin. Von dem Krieg im Osten des Landes ist hier nicht viel zu merken.
Fünf Jahre, nachdem Wladimir Putin den Osten des Landes überfiel und die Halbinsel Krim annektierte, steht das Land überraschend gut da. Im vergangenen Jahr ist die Wirtschaft um 3,3 Prozent gewachsen, laut Weltbank steigen die Einkommen.
Mehr als 14 Millionen Touristen kamen allein 2018 ins Land, vor allem Lviv gilt als Touristenmagnet. Den Aufschwung hat die Ukraine Petro Poroschenko zu verdanken. Der Präsident hat die ukrainische Armee aufgerüstet und so verhindert, dass Putin weitere Teile des Landes einnimmt.
Trotz dieser Bilanz kann Poroschenko nicht davon ausgehen, dass er am Sonntag bei der Präsidentschaftswahl im Amt bestätigt wird. In Umfragen liegen der Überraschungskandidat Wolodimir Selenski, ein Fernsehkomiker, und die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko vor ihm. Demnach würde es Poroschenko nicht in die Stichwahl am 21. April schaffen. Was hat der Amtsinhaber falsch gemacht, dass eine Mehrheit der Menschen nicht mal mehr in seiner einstigen Hochburg Lviv für ihn stimmen würde?
Wenn jemand eine Antwort darauf hat, dann ist es Andrej Sadowi. Der Bürgermeister von Lviv ist einer der lautesten und bekanntesten Kritiker Poroschenkos im Land. Sadowi öffnet die großen Flügeltüren seines Büros und tritt auf die imposante Terrasse hinaus.
Er macht eine ausladende Geste und zeigt auf den Marktplatz, der ihm zu Füßen liegt. Sadowi glaubt zu wissen, womit Poroschenko das Vertrauen der Bevölkerung verspielt hat. „Korruption", ruft er mit seiner lauten, kräftigen Stimme. Misswirtschaft sei die zweite Front, an der die Ukraine kämpfe. Aber dieses Mal eben mit sich selbst.
„Es ging den Menschen in den vergangenen Jahren einfach nicht schnell genug voran", versucht er die Unzufriedenheit zu erklären. Zu viel Geld versickere, zu viele bereicherten sich, ohne ein Anrecht darauf zu haben. „Dabei ist hier so viel Potenzial", sagt er. „Wir können Flugzeuge bauen und programmieren." Aber all das helfe nicht, wenn am Ende doch die Korruption den Fortschritt lähmt.
Petro Poroschenko ist nun seit fünf Jahren im Amt. Er war angetreten mit dem Versprechen, die Ukraine gen Westen zu führen. Er wollte aufräumen mit der Günstlingswirtschaft und das Regierungsgeschäft in die Hand von unbestechlichen Profis legen.
Die Nichtregierungsorganisation Transparency International stellt ihm dafür jedoch ein jämmerliches Zeugnis aus. Die Ukraine gilt heute weiter als eines der korruptesten Länder der Welt, im Ranking vor Dschibuti und hinter Mali. Erst im Februar kippte das Verfassungsgericht ein neues Korruptionsgesetz. Es sollte „illegale Bereicherung" von Personen in öffentlichen Ämtern unter Strafe stellen, das Strafmaß lag bei bis zu zehn Jahren.
Dass es ihm nicht gelungen ist, die Korruption einzudämmen, dürfte Poroschenko wesentlich Stimmen kosten. Auch IT-Expertin Kuz ist deswegen enttäuscht von ihrem Präsidenten. Sie beklagt auch, dass er nicht entschlossen genug gegen die alten Kader von Viktor Janukowitsch vorgegangen sei. Der ehemalige Präsident hatte sich nach den Protesten 2014, als Hunderttausende Ukrainer wochenlang für ein Abkommen mit der EU und gegen sein Regime auf die Straßen gegangen waren, nach Russland abgesetzt.
Immerhin gegenüber Moskau hält Poroschenko Kurs: Kompromisslose Härte, seit fünf Jahren. Nach der jüngsten Eskalation im Schwarzen Meer Ende November, als Russland ukrainische Matrosen im Asowschen Meer gefangen nahm, verhängte Poroschenko Kriegsrecht. Wie würden sich seine Herausforderer Timoschenko und Selenski in einer ähnlichen Situation verhalten?
Das kann niemand so genau sagen, am wenigsten offenbar die beiden Kandidaten selbst. Ihre Rhetorik ist prowestlich, in sicherheitspolitischen Fragen äußern sie sich bewusst vage. Im Januar hatte Komiker Selenski sein Wahlprogramm vorgelegt, es passt auf vier Seiten.
Darin verspricht er die Einführung direkter Demokratie, eine Beteiligung aller Ukrainer am nationalen Reichtum von Geburt an und Straßenbau auf westeuropäischem Niveau. Trauen die Ukrainer einem politisch unerfahrenen Komiker zu, ihr Land gegen russische Aggressionen zu verteidigen und in die Zukunft zu führen?
In seiner Comedy-Serie „Diener des Volkes" spielt Selenski einen Geschichtslehrer, der über ein YouTube-Video zum Präsidenten gewählt wird. Wenn aus der Fiktion Realität werden sollte, will Selenski einen russischsprachigen Sender aufbauen, um im Osten besser gegen Moskaus Desinformationskampagnen vorzugehen.
Für viele Wähler steht fest, dass ihn der Oligarch Igor Kolomojski unterstützt, auf dessen Fernsehsender „Diener des Volkes" läuft. Kolomojski wiederum ringt mit Poroschenko, der nach wie vor als Süßwarenunternehmer tätig ist, um Einfluss auf die ukrainische Industrie.
„Die Oligarchen haben bei uns immer noch zu viel Macht", sagt Tetiana Kuz, die IT-Unternehmerin. Deswegen werde sie wohl nicht Selenski wählen, zudem wirkt er auf sie im Konflikt mit Russland zu unentschieden. Also doch Poroschenko? Kuz hadert, weiß noch nicht, für wen sie stimmen wird. Damit steht sie für die ukrainische Mittelschicht, besonders für ihre Heimatstadt Lviv.
Obwohl die Ukrainer den bescheidenen Wohlstand Poroschenko zu verdanken haben, zweifeln sie an ihm. Am Ende müssen die Wähler am Sonntag entscheiden, welches das kleinere Übel ist: Poroschenko, der im Hinblick auf Korruption wackelt, oder Selenski, der womöglich Putin nicht die Stirn bieten kann.
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