2011 tötete der Rechtsterrorist Anders Breivik in Norwegen 77 Menschen, viele waren noch Jugendliche. Are Tomasgard ist ihm unmittelbar vor der Bluttat begegnet. Ein Zufall beschäftigt ihn bis heute.
Oslo - Wenn Are Tomasgard die Augen schließt, sieht er manchmal das Gesicht des Massenmörders vor sich. „Das vergisst man nicht", sagt er. Am 22. Juli 2011 war das, als er Anders Behring Breivik am Schiffsanleger gegenüberstand - dem Mann, der anderthalb Stunden zuvor eine Bombe in Oslos Regierungsviertel gezündet hatte. Are Tomasgard und sein Sohn waren die letzten, die die kleine Insel Utøya in Norwegen mit der Fähre verlassen hatten. Breivik war in die entgegengesetzte Richtung unterwegs - um ein weiteres furchtbares Blutbad anzurichten.
Rechtsterrorist tötet in Oslo und auf Utøya 77 MenschenInsgesamt 77 Menschen starben, die Anschläge des Rechtsterroristen Anders Breivik haben tiefe Narben im kollektiven Gedächtnis der Norweger hinterlassen. Es ist ein nationales Trauma - und für viele auch ein Persönliches. Are Tomasgard arbeitet heute direkt gegenüber von der Stelle, an der 2011 Breiviks Bombe explodierte. Der Attentäter hatte einen Kleintransporter geparkt und mit Sprengstoff vollgestopft, der um 15:25 Uhr detonierte. Acht Menschen kamen dabei ums Leben, die umstehenden Regierungsgebäude wurden teils massiv beschädigt.
Narben auch im Stadtbild, die bis heute sichtbar sind. Gerade erst wird eines der damals beschädigten Häuser renoviert und ausgebaut, Tomasgard kann von seinem Büro aus direkt auf die Baustelle blicken. Er arbeitet bei Landsorganisasjonen i Norge (kurz LO), einem großen Gewerkschaftsdachverband. Dort ist er unter anderem für Sicherheitspolitik verantwortlich. „Ich mache diesen Job auch wegen dem, was ich damals erlebt habe", sagt er. Sicherheit, das sei ein großes Thema geworden.
Vater begegnet zufällig Anders Breivik: „Fast hätte ich ihn versehentlich angefahren"Eigentlich hatte der Gewerkschafter damals geplant, einen Vortrag vor der Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei (AUF) zu halten, die auf Utøya wie jedes Jahr ein Zeltlager aufgebaut hatten: Dutzende politisch engagierte Jugendliche, die einfach ein bisschen feiern wollten. Sein Sohn war Mitglied. „Aber dann hörten wir vom furchtbaren Bombenanschlag in Oslo und die Veranstaltung wurde abgesagt", erzählt Tomasgard. Die Worte sprudeln jetzt schnell aus ihm heraus, er hat diese Geschichte schon oft erzählt, Freunden, der Familie. Das helfe.
„Mein Sohn und ich haben dann die Fähre zurück zum Festland genommen. Dort habe ich Breivik gesehen, er hatte eine Uniform an und ich dachte, dass er ein Polizist ist." Ihm sei das völlig plausibel vorgekommen, angesichts des Bombenanschlags, über das jetzt auch schon im Radio berichtet wurde. „Ich dachte, er will die jungen Leute auf der Insel beruhigen." Tomasgard und sein Sohn setzten sich ins Auto, um nach Hause zu fahren. Eine Sache, die ihm bis heute nicht aus dem Kopf geht: „Fast hätte ich Breivik versehentlich angefahren, als ich mit dem Auto aus der Parklücke zurücksetzte." Der Sensor seines Wagens habe gepiept und im Rückspiegel habe der dann wieder den vermeintlichen Polizisten gesehen, mit einer Kiste unter dem Arm und einer Waffe.
Breivik-Anschlag auf Utøya in Norwegen: 67 Menschen erschossen, zwei sterben im WasserTatsächlich hatte sich Neonazi Breivik damals als Polizist verkleidet, trug sogar einen gefälschten Polizeiausweis bei sich. Auf der Insel Utøya angekommen, rief er die Jugendlichen zusammen, unter dem Vorwand, sie über das Bombenattentat in Oslo aufzuklären, von dem sie inzwischen gehört hatten. Dann fing er ohne Vorwarnung an, auf die Menschen zu schießen. 67 von ihnen starben an Schussverletzungen, eine Person stürzte bei der Flucht von einer Klippe, eine weitere ertrank. Viele von ihnen waren zwischen 14 und 18 Jahre alt.
Zeuge über Breivik-Attentat: „Ich hörte merkwürdige Geräusche, offenbar fielen Schüsse"Are Tomasgard hat die ersten Momente des Anschlags damals mitanhören müssen. „Als wir auf dem Rückweg waren, habe ich mit einem Freund telefoniert, der noch auf Utøya war. Ich hörte merkwürdige Geräusche, offenbar fielen Schüsse." Sofort rief er die Polizei.
Aktuell sind die Erinnerungen an die Anschläge besonders präsent. Denn vor zwei Monaten hatte der Massenmörder Anders Breivik den norwegischen Staat verklagt: wegen angeblich unmenschlicher Haftbedingungen. Das Verfahren ist ein Riesen-Aufreger in den Medien, über den hier jetzt viel diskutiert wird. Breivik war 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 21 Jahren mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden, eine lebenslange Freiheitsstrafe gibt es im norwegischen Recht nicht. Der Massenmörder pocht derweil auf seine Menschenrechte und will vorzeitig entlassen werden. Auch in Deutschland hatte der Fall zuletzt für einen Skandal gesorgt: Der AfD-Politiker Kai Borrmann hatte sich in einem Tweet zu Breivik geäußert. „Dass er ein Mörder war, beweist ja nicht, dass er politisch falsch lag", schrieb der AfD-Mann via X (ehemals Twitter). Borrmanns Account bei der Plattform wurde daraufhin gesperrt.
Are Tomasgard schüttelt bei dem Thema nur den Kopf. Ihm genüge es, wenn er das Gesicht des Massenmörders nicht mehr sehen muss. Und er sagt: „Eine Sache hab ich gelernt: Du weißt nie, was passiert, egal, was du planst." (pen) Transparenzhinweis: Ippen.Media wurde von der norwegischen Botschaft in Berlin nach Oslo eingeladen.