Dieser Film drückt den Zuschauer fassungslos in den Sitz: "Gladbeck" rekonstruiert minutiös das Geiseldrama von 1988 - und verbindet Medien- und Polizeikritik zu einem Thriller, der künftig Referenzwerk sein wird. Von Peter Luley
Die beiden Gangster, die im nordrhein-westfälischen Gladbeck eine Bank überfallen und Geiseln genommen haben, verhandeln gerade mit der Polizei, als ein gewisser Hans Meiser von RTL plus in der Filiale anruft: "Können Sie mir sagen, welche Forderungen Sie über die 300.000 Mark hinaus stellen?", erkundigt sich der Journalist, "was für einen Fluchtwagen wollen Sie denn haben?"
Zu einem späteren Zeitpunkt des sich über drei Tage hinziehenden Verbrechens - die Täter haben auf der Flucht zwischenzeitlich einen Linienbus gekapert und eine Geisel erschossen - führen Journalisten mit den Kidnappern Interviews in der Kölner Fußgängerzone. Einer, der spätere "Bild"-Chefredakteur Udo Röbel, bringt gar Kaffee vorbei, steigt zu ihnen ins Auto und lotst sie aus der Stadt.
Nicht umsonst ist das "Gladbecker Geiseldrama", das (West-)Deutschland vor 30 Jahren, im August 1988, in Atem hielt, zum Synonym für den Sündenfall sensationsheischender Medien geworden und als solcher fest im kollektiven Bewusstsein verankert. Wie skrupellos und übergriffig die Medien agierten, zeigt der ARD-Zweiteiler "Gladbeck" jetzt erstmals in einer minutiösen Rekonstruktion. Er ist durchweg mit Schauspielern inszeniert - Sascha Alexander Geršak spielt den Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner, Alexander Scheer verkörpert seinen Komplizen Dieter Degowski -, "beinhaltet fiktionale Elemente und bewertet eigenständig", wie eine Einblendung informiert, hält sich aber doch sehr eng an den realen Ablauf.
Absurde Fehlentscheidungen
Das hebt ihn ab von bisherigen TV-Aufarbeitungen wie dem RTL-Doku-Drama "Wettlauf mit dem Tod" (1998) oder dem ZDF-Thriller "Ein großes Ding" (1999). Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt und Regisseur Kilian Riedhof haben Untersuchungsausschussberichte gelesen und mit Zeitzeugen gesprochen; die Dialoge im Film sind großenteils nicht erdacht, sondern bilden den Originalton der Protokolle ab.
Dass der Film den Zuschauer fassungslos in den Sitz drückt, liegt allerdings nicht nur am drastisch in Erinnerung gerufenen Fehlverhalten der Medien. Es ist das eklatante und fortgesetzte Polizeiversagen, das genauso sprachlos macht. Selbst wer sich aus eigener Zeitzeugenschaft noch an die Ereignisse erinnert, wird nicht mehr alle Wendungen präsent haben - und einige Erkenntnisse beruhen auch darauf, dass nun Polizeibeamte bereit waren zu reden, die nicht mehr im Dienst sind.
Scheint es anfangs noch nachvollziehbar, dass sich die Beamten dagegen entscheiden, die Bank zu stürmen - das Gebäude ist schlecht einsehbar -, so häufen sich in der Folge Fehlentscheidungen und Kommunikationspannen in absurdem Ausmaß. Einsatzleiter Meise (Ulrich Noethen) installiert zwar eine Verhandlungsgruppe, verordnet aber stets Zurückhaltung. Während die Verbrecher so planlos wie brutal im bereitgestellten Fluchtwagen mit zwei Geiseln zu einer Irrfahrt durch Deutschland aufbrechen und erst mal Rösners Freundin Marion Löblich (Marie Rosa Tietjen) abholen, ergeben sich mehrere Möglichkeiten zum Zugriff, die allesamt ungenutzt verstreichen. Im Bremer Stadtteil Vegesack gehen Rösner und Löblich entspannt einkaufen, Degowski muss pinkeln, die Geiseln sitzen allein im Auto - aber niemand handelt.
Düpierte Polizei
Geradezu surreal mutet das Geschehen an, als Einsatzleiter Meise das Kommando an seinen Bremer Kollegen Möller (Martin Wuttke) übergibt, der noch überforderter ist und schon Schwierigkeiten hat, die Annahme von Telefongesprächen zu organisieren. Die Verbrecher kapern einen Linienbus mit zahlreichen Fahrgästen, darunter die 18-jährige Silke Bischoff (Zsá Zsá Inci Bürkle) und der 15-jährige Emanuele de Giorgi (Riccardo Campione). Während ein Fotograf (Albrecht Schuch) Kontakt zur Polizei herzustellen versucht, gibt Rösner obszöne Interviews ("Ich scheiß auf mein Leben") und posiert mit in den Mund gesteckter Pistole.
Weiter geht die Horrorfahrt an die Raststätte Grundbergsee, wo die Polizei in einer unkoordinierten Aktion Marion Löblich im WC-Bereich überwältigt, vorübergehend festnimmt und die Gangster misstrauisch macht. Als Löblich wieder freigelassen werden soll, bricht der Schlüssel für ihre Handschellen ab, die Aktion verzögert sich. Daraufhin erschießt Degowski Emanuele de Giorgi, der auch deshalb verblutet, weil kein Rettungswagen vor Ort ist.
Drei Todesopfer
Nach einem Abstecher nach Holland, wo die Verbrecher im Tausch gegen ein neues Fluchtauto alle Geiseln bis auf Silke Bischoff und ihre Freundin Ines Voitle freilassen, folgt noch die Station in Köln und das fatale Finale auf der A3, wo die düpierte Polizei plötzlich alle Risikovermeidung fahren lässt, angreift und Silke Bischoff von einer Kugel aus Rösners Waffe tödlich getroffen wird. Insgesamt fordert das Verbrechen drei Todesopfer, auch ein Polizist stirbt.
Bis in die Ausgestaltung der letzten Szene, in der eine ganze Armada schwerer Mercedes-Benz und BMW das Desaster beglaubigt, erweist sich Regisseur Kilian Riedhof als brillanter Chronist der späten Achtzigerjahre. Wie schon in "Der Fall Barschel" gelingt es ihm, detailgenau die Befindlichkeit der Bonner Republik einzufangen, nicht nur bei der Ausstattung. Ob im Hintergrund "Blueprint" von den Rainbirds läuft oder in den Nachrichten der Satz fällt, "Aids sei keine Strafe Gottes" - der Geist jener Epoche weht aus jeder Einstellung.
Nicht zuletzt ist "Gladbeck", das künftig Referenzwerk für die Beschäftigung mit diesem Fall sein wird, auch ein Mahnmal für die Opfer, deren persönlicher Hintergrund ausführlich dargestellt wird. Wie prägend die Ereignisse von damals für die Betroffenen bis heute sind, zeigt eindrücklich auch die begleitende Doku "Danach war alles anders", die die Angehörigen zu Wort kommen lässt. Die Geiselgangster wurden 1991 zu lebenslanger Haft verurteilt. Hans-Jürgen Rösner, der vergeblich versucht hat, den Film gerichtlich zu verhindern, sitzt heute in der JVA Aachen ein. Dieter Degowski wurde im Februar auf Bewährung in eine neue Identität entlassen.
"Gladbeck". 7. und 8.3., 20.15 Uhr, ARD; die begleitende Doku "Das Geiseldrama von Gladbeck - Danach war alles anders" läuft am 8.3. um 21.45 Uhr
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